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Menschenrechte
Eine Opferzeugin vor dem Jugoslawientribunal

ICTY
© Photograph provided courtesy of the ICTY

„Erinnern Sie sich, wann der Krieg in Foča begonnen hat“, fragt die Staatsanwältin die junge Zeugin. „Es war der 7. April 1992.“ „Woher wissen Sie noch, dass es exakt dieser Tag war?“ „Es war mein Geburtstag.“ Aus dem Wortprotokoll über diesen Verhandlungstag am Mittwoch, den 19. April 2000, ist zu erfahren, dass es der 19. Geburtstag war. Acht Jahre später sagte die Frau im Gerichtssaal des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (engl. kurz ICTY) gegen die Angeklagten aus. Es war das Verfahren gegen Dragoljub Kunarac, Radomir Kovač und Zoran Vuković, drei bosnische Serben. Sie waren angeklagt, weibliche Zivilisten, gefangene Muslimas, vergewaltigt, gefoltert und als Sex-Sklavinnen gehalten und verkauft zu haben.

Das Modell des Ad-hoc-Strafgerichtshofs

Im Sommer 1992 hatten sich Berichte über ethnische Säuberungen, willkürliche Erschießungen und Verbrechen in den Gefangenenlagern gehäuft. Eine Expertenkommission der Vereinten Nationen, aber auch die Europäische Gemeinschaft und die OSZE sammelten Beweise. Vorangegangene Resolutionen des UN-Sicherheitsrats hatten ihre Wirkung, die Kriegsparteien zu ermahnen und an ihre persönliche Verantwortlichkeit zu erinnern, verfehlt. Mit der Resolution 808 beschloss der UN-Sicherheitsrat die Errichtung eines internationalen Strafgerichthofes. Das Statut wurde am 25. Mai 1993, genau vor 30 Jahren, angenommen. Diese Gründung machte den ICTY zu einem Organ der Vereinten Nationen. Ein Jahr später sollte der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda nach diesem Ad-hoc-Modell aufgebaut werden. Die 16 internationalen Richterinnen und Richter wurden stets von der UN-Vollversammlung gewählt und die Chefankläger direkt vom Sicherheitsrat auf Vorschlag des UN-Generalsekretärs ernannt. Als institutionelles Vorbild kann der ICTY für ein Sondertribunal zur Verfolgung des Verbrechens der Aggression durch Russland schon deshalb nicht fungieren, weil mindestens eines der ständigen Sicherheitsratsmitglieder – die Russische Föderation – ein Veto einlegen würde.

Völkermord nicht verhindert

Im November 1993 nahm der ICTY in Den Haag seine Arbeit auf. Er wurde somit mehr als eineinhalb Jahre vor dem Völkermord in Srebrenica errichtet. Bei diesem Massenverbrechen wurden im Zeitraum von einer Woche im Juli 1995 mehr als 8000 überwiegend männliche Bosniaken zwischen dreizehn und 78 Jahren ermordet. Der Völkermord in Srebrenica wurde unter dem obersten militärischen Befehlshaber der Armee der Republik Srpska, General Ratko Mladić, verübt. Sehr spät, erst 2011, wurde Mladić in seinem Versteck im nördlichen Teil Serbiens enttarnt und nach Den Haag ausgeliefert. Bis dahin war er 16 Jahre auf der Flucht. Die Anklageschrift umfasste Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, und Völkermord. Er wurde in dem Verfahren in erster Instanz zu lebenslanger Haft verurteilt, die Berufungsinstanz hat das Urteil im Juni 2021 bestätigt. Das Jugoslawientribunal hatte zu diesem Zeitpunkt seine Arbeit bereits eingestellt; Es war nur noch ein Nachfolgemechanismus für Berufungsverfahren tätig. Mladić befindet sich seither im Gefängnis in Scheveningen in Den Haag.

Das Leben danach

Doch wie geht es den Opfern, den Überlebenden und den Angehörigen heute? Die junge Frau aus der kleinen Stadt Foča war bei ihrer Aussage im Jahr 2000 27 Jahre alt und dürfte in diesem Jahr demnach ihren 50. Geburtstag gefeiert haben. Über das heutige Schicksal der Frau wissen wir nichts – ihre Identität ist zu ihrem Schutz nicht veröffentlicht. Doch im Wortprotokoll findet sie Gehör. Ihre Erfahrung der Massenvergewaltigung durch mehrere Täter ist in ihren eigenen Worten nachzulesen. Dies erstreckt sich auch auf die Frage der Staatsanwältin, was die Opferzeugin genau unter dem Begriff rape, Vergewaltigung, verstehe. Angesichts der Schwere des Leids und der unvorstellbaren Dimension der Verbrechen mag eine solche Nachfrage der Staatsanwältin wenig empathisch erscheinen. Doch die objektive Feststellung der Taten mit den dazugehörigen Details ist genau das Ziel der Internationalen Strafgerichtshöfe sowie aller rechtsstaatlichen Strafverfahren. Dies demonstriert der Auszug des Gesagten aus dem Wortprotokoll:

Q: And when you used the world „rape“ and I'm sorry I have to ask you this, what specifically do you mean that they did?
A: „They destroyed everything in me.“

Die Bedeutung der Wortprotokolle

„They destroyed everything in me.“ Diese Macht der Worte der Opferzeugin sind für immer festgehalten in den öffentlich zugänglichen Wortprotokollen. Sie sind abrufbar in einer Datenbank, und so bis heute nachzulesen. Das Geschehene, die Verbrechen, das Leid, die verhinderten Chancen einer ganzen Generation können auch internationale Strafgerichtshöfe nicht „wieder gutmachen“. Auch können sie künftige gravierende Verbrechen, die Menschen an Menschen begehen, nicht verhindern. Durch ihre Urteile verhindern sie Straflosigkeit und durch ihre Wortprotokolle leisten sie einen wesentlichen Beitrag zur Geschichtsschreibung. Die Wahrheit wird in rechtsstaatlichen Strafverfahren ermittelt und festgestellt. Opfer der Verbrechen erfahren Gehör und vielleicht ein wenig Genugtuung.

Die Angeklagten Kunarac, Kovač und Vuković wurden zu 28, 20 bzw. 12 Jahren verurteilt. Sie wurden im Februar 2001 am ICTY schuldig gesprochen. Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien hat mit seinen Prozessen zahlreichen Verfahren auf nationaler Ebene den Weg geebnet. Das ist seine größte Leistung.

Der Bundestag befasst sich am Donnerstag, 25. Mai 2023, in einer rund 45-minütigen Debatte mit dem Thema „30 Jahre Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien.