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Rechtsstaat
Der Rechtsstaat: Lehren der Vergangenheit, Verantwortung der Gegenwart

20. Karlsruher Verfassungsdialog
Karlsruher Verfassungsdialog

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im Gespräch mit Gigi Deppe, Leiterin ARD Rechtsredaktion / Hörfunk und Prof. Christoph Safferling

© FNF

Am 1. Oktober 2025 feierte der Karlsruher Verfassungsdialog ein Jubiläum: Bereits zum 20. Mal luden die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (FNF) gemeinsam mit der Reinhold-Maier-Stiftung und der Vereinigung Liberaler Juristen nach Karlsruhe ein, um aktuelle Entwicklungen im Lichte der Verfassung zu reflektieren. In diesem Jahr stand der Rechtsstaat selbst im Mittelpunkt.

Auf dem Podium sprachen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Christoph Safferling. Durch das Gespräch führte Gigi Deppe.

Gefährdung des Rechtsstaats in Zeiten rechtsextremer Herausforderungen

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, ehemalige Bundesjustizministerin und stellvertretende Vorsitzende der FNF, nahm in ihrem eindringlichen Impulsvortrag die Lage des Rechtsstaats in den Blick.

 Rechtsextreme Gewalttaten nähmen deutlich zu, das Vertrauen in staatliche Institutionen drohe zu bröckeln. Die Bedrohung komme nicht nur von den Rändern der Gesellschaft, sondern auch aus dem Inneren des Staates – von einzelnen Akteuren in Behörden, der Justiz und den Parlamenten.

Leutheusser-Schnarrenberger zeigte auf, wie autoritäre Bestrebungen den schrittweisen Abbau demokratischer Kontrollinstanzen betreiben: Zuerst werde die Justiz untergraben, dann die Medien. Ein gefährliches Muster, das sich immer wieder zeigt.

Zwar verfüge die wehrhafte Demokratie über wirksame rechtsstaatliche Mittel – darunter Parteiverbote, Vereinsverbote, die Verwirkung von Grundrechten oder die Richteranklage – doch deren Einsatz sei bewusst an hohe Hürden geknüpft und müsse sorgfältig abgewogen werden. Ein gescheitertes Verfahren könne dem Rechtsstaat mehr schaden als nutzen.

Zum Abschluss betonte Leutheusser-Schnarrenberger, dass Demokratie und Rechtsstaat nicht allein durch Gesetze und Institutionen geschützt werden können. Entscheidend sei die Gesellschaft selbst – ihre Aufmerksamkeit und ihr Wille, die freiheitlichen Werte aktiv zu verteidigen.

Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und ihre Bedeutung für die Gegenwart

Christoph Safferling, Professor für Strafrecht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Direktor der Internationalen Akademie Nürnberger Prinzipien, spannte in seinem Impulsvortrag einen eindrucksvollen Bogen von der Vergangenheit bis in die Gegenwart.

Dabei machte er deutlich, dass der Begriff „Rechtsstaat“ weit mehr umfasst als die bloße Bindung an das Recht und deshalb kaum in andere Sprachen übersetzbar sei. Der Begriff verbinde mit diesem formellen Aspekt materielle Werte, vor allem mit der Verpflichtung auf die Würde des Menschen.

Der Rechtsstaat sei keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Verpflichtung, die aus den Erfahrungen von unermesslichem Leid und Millionen Toten erwachse.

Auch Safferling betonte, dass autoritäre Bestrebungen oft vertrauten Mustern folgen – Mustern, die wir aus der Geschichte kennen sollten. Deshalb greifen solche Bewegungen häufig als Erstes Bildung und Geschichtsbücher an, um ihre eigene Deutungshoheit durchzusetzen – wie man es heute etwa in Polen oder Ungarn beobachten könne.

Auch wenn die heutigen Umstände in Deutschland anders sind als in der Weimarer Republik, rief Safferling dazu auf, die Lehren aus der Geschichte ernst zu nehmen und sich mit Wachsamkeit den Herausforderungen unserer Demokratie zu stellen.

Seinen Beitrag schloss Safferling mit einem Zitat von Winston Churchill aus dem Jahr 1947, das hier auf Deutsch wiedergegeben wird: „Niemand behauptet, dass Demokratie perfekt oder allwissend ist. Tatsächlich wurde gesagt, dass Demokratie die schlechteste Staatsform sei, abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert wurden.“

Podiumsdiskussion: Historische Verantwortung und aktuelle politische Herausforderungen

In der von Gigi Deppe, Leiterin der ARD-Rechtsredaktion / Hörfunk, moderierten Diskussion wurde deutlich, wie eng historische Verantwortung und aktuelle politische Herausforderungen miteinander verwoben sind.

Leutheusser-Schnarrenberger und Safferling betonten, dass sich die heutigen Rahmenbedingungen grundlegend von denen der Weimarer Republik unterschieden. Die 1930er-Jahre seien von einer tiefen Wirtschaftskrise, offener Gewalt auf den Straßen und massiver Feindschaft gegenüber der Demokratie geprägt gewesen – Zustände, von denen Deutschland heute weit entfernt sei.

Gleichwohl lohne der Blick zurück: Entwicklungen in anderen Demokratien – vor allem in den USA – zeigten, wie schnell demokratische Errungenschaften ins Wanken geraten und die Lehren aus Weimar aktuell werden. Zudem stelle die Verbreitung extremistischer und manipulativer Inhalte in sozialen Medien eine neue, kaum kontrollierbare Dynamik dar, die bei der Konzeption des Grundgesetzes nicht vorstellbar war.

Auch die aktuelle Debatte um die Wahl von Richterinnen und Richtern des Bundesverfassungsgerichts wurde aufgegriffen. Die Debatte verdeutlichte, wie sensibel das Gleichgewicht zwischen demokratischer Legitimation und institutioneller Unabhängigkeit sei.

Safferling plädierte für eine offene Diskussion über Verfahren und mögliche Reformen, warnte aber vor gezielten Kampagnen. Leutheusser-Schnarrenberger betonte, dass rechte Akteure die Debatte bewusst instrumentalisierten, um das Vertrauen in das Gericht zu zerstören. Persönliche Angriffe und parteipolitische Etikettierungen erweckten den Eindruck, Richter und Richterinnen entschieden nicht unabhängig, sondern im Sinne einzelner Parteien. Damit sei der Versuch, das Verfassungsgericht in den politischen Schlagabtausch zu ziehen, Teil einer systematischen Strategie zur Schwächung zentraler Institutionen – befeuert durch soziale Medien, die solche Narrative massenhaft verbreiten.

Der Rechtsstaat als gemeinsame Aufgabe

Der 20. Karlsruher Verfassungsdialog machte deutlich: Der Rechtsstaat ist kein starres Konstrukt, sondern ein lebendiges Versprechen, das ständig neu eingelöst werden muss. Die Verteidigung liberaler Werte – gegen Extremismus, Gleichgültigkeit und das Vergessen der Geschichte – ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die Politik, Justiz und Bürgerinnen und Bürger gemeinsam tragen. Nur durch entschlossenes und zugleich besonnenes Handeln lässt sich die liberale Demokratie dauerhaft erhalten.