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Archiv des Liberalismus
Thomas Hüetlin: Berlin, 24. Juni 1922

Der Rathenaumord und der Beginn des rechten Terrors in Deutschland
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Vor hundert Jahren wurde am 24. Juni Walther Rathenau ermordet. Hüetlin, langjähriger Spiegel-Reporter, recherchiert Vorgeschichte, aber auch Auswirkungen bis zum heutigen Tag und schlägt den Bogen vom Attentat auf Matthias Erzberger im August 1921 bis zur Ermordung Walter Lübckes, des Kasselaner Regierungspräsidenten, am 2. Juni 2019.

Weniger die Attentate, sondern vielmehr die Täter stehen für Hüetlin im Fokus. Wer waren diese meist aus gutbürgerlichen Elternhäusern stammenden jungen Männer, die sich der Gewalt bis hin zum Mord kompromisslos verschrieben hatten. Der Erzberger-Mord bietet dafür wegweisende Spuren. Die Mörder hinterließen leichtfertig Indizien, so dass Namen, Adressen und vor allem Hintermänner schnell ausfindig gemacht werden konnten. Alle Wege führten nach München zu einer – unter dem Tarnnamen „Bayerische Holzverwertungsgesellschaft“ – straff organisierten Zelle, zur „Organisation Consul“ (OC). Charismatischer Führer war Hermann Ehrhardt. Sohn eines Pastors in Baden erhielt Ehrhardt als Seekadett bei der kaiserlichen Marine seine Ausbildung. In Deutsch Südwestafrika wurde er beim Genozid an den Hereros zum „Meister des Tötens". Nach 1918 erfuhr er eine doppelte Demütigung. Der Krieg war verloren und die Hochseeflotte, der Stolz des Kaisers, versenkte sich kampflos im britischen Scapa Flow. Für Ehrhardt galt, lieber weiterzukämpfen als sich dem als Diktat verstandenen Versailler Vertrag unterzuordnen. Er schloss sich den überall entstehenden Freikorps an. Lieber führte er mit seiner Art „Untergrundarmee“ (S. 65) seinen Krieg nach dem Krieg. Rache und Vergeltung waren angesagt. Er verkörperte regelrecht die Soldaten, die nach vierjährigem Sterben für den Kaiser an der Front sich weigerten, in ein ziviles Leben zurückzukehren. Denn der Krieg war für viele die erste und einzige Erfahrung nach der Schule gewesen: „Der Blutrausch war Programm“ (S. 18).

Auch Ernst von Salomon hatte sich nach der Kadettenanstalt den Freikorps angeschlossen und dort seine Heimat gefunden. Im Sommer 1919 ging es nach Oberschlesien und dann ins Baltikum, um deutsches Land gegen Polen zu verteidigen. Die vielgelesenen Publikationen des späteren Bestsellerautors „Die Geächteten“ (1929) und „Die Kadetten“ (1933) bieten dem Journalisten detailliertes Material für seine Rekonstruktion, wie Gewalt zum eigentlichen Lebensinhalt wurde, wie Tod süßer als das Leben schien. Offensichtlich übten die preußischen Kadettenanstalten, Zuchtstätten kommender Eliten, einen besonderen Einfluss aus; denn – so der Autor – sie waren „die Koranschulen ihrer Zeit. Hochideologisch aufgeladene Institutionen, wo den Lernenden das Gehirn gewaschen und sie gedrillt wurden“ (S. 113). Der Krieg erhielt eine metaphysische Weihe. Der Verfasser erinnert an Klaus Theweleits „bahnbrechende“ Dokumentation „Männerphantasien“ (1977/78, 2019).

Nach dem gescheiterten Kapp-Putsch war für die Feinde der Demokratie eine neue Strategie angesagt. Repräsentanten der sich allmählich stabilisierenden Republik sollten angeprangert, diffamiert, ja hingerichtet werden. Das Kalkül war, einen Umsturz regelrecht zu provozieren, um dann als neue Ordnungsmacht einschreiten zu können. Ganz oben auf ihrer Agenda stand Walther Rathenau. Er wurde zur willkommenen Zielscheibe hasserfüllter Agitationen rechtsstehender antisemitischer Gruppierungen und letztendlich zum Mordopfer: „Knallt ab den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau!“ (S. 105).

Er war Großindustrieller, Sohn Emil Rathenaus, des Gründers der weltumspannenden AEG. Inhaber zahlreicher Aufsichtsratsstellen, was ihm den Titel „Aufsichtsrathenau“ einbrachte. Er war Schriftsteller. Sein 1917 erschienenes Buch „Von kommenden Dingen“ wurde bald zum viel gelesenen Kultbuch. Er verstand sich als Kunstmäzen und ließ sich sogar von Edvard Munch malen. Und schließlich war er Jude. Der reiche Junggeselle bewohnte im vornehmen Berliner Grunewald eine selbst entworfene Villa und besaß in Freienwalde sogar ein preußisches Schloss. Zu Beginn des Krieges überzeugte er das preußische Kriegsministerium, eine „Kriegsrohstoff- Abteilung“ einzurichten, um dem drohenden Munitionsmangel zuvorzukommen. Er selbst leitete diese Abteilung acht Monate. General Ludendorff, den er als Kriegsherren bewunderte, beriet er, um den Krieg effektiver, ja totaler führen zu können. Die kontroverse Auseinandersetzung um den uneingeschränkten U-Boot-Krieg führte zum Bruch. Am Kriegsende war es Rathenau, der das Waffenstillstandsgesuch der Obersten Heeresleitung als übereilt und falsch anprangerte: „Wir wollen nicht Krieg, sondern Frieden. Doch nicht den Frieden der Unterwerfung.“ Sein Aufruf zur „levée en masse“ stempelte Rathenau zum Kriegsverlängerer.

Seine in kurzer Zeit erschienenen Schriften – Rechtfertigungen, wirtschaftliche Zukunftsentwürfe, aber auch seine differenzierte Bilanz „Der Kaiser“ (1919) – konnten ihn nicht rehabilitieren und aus der politischen Ausgrenzung befreien. Er war 1918 Mitgründer eines nur kurzlebigen „Demokratischen Volksbundes“ und wurde auch Mitglied der DDP, ohne die erhoffte politische Aufgabe zu erhalten. Trotz seiner wirtschaftlichen Kompetenz und seines internationalen Renommees befand er sich zum Kriegsende im gesellschaftlichen Abseits, ein Ausgegrenzter, ein „Gezeichneter“, wie ihn sein späterer Biograf Harry Graf Kessler charakterisierte. Erst im Sommer 1920 wurde er in die Sozialisierungskommission berufen, und er begleitete als Sachverständiger die deutsche Delegation zur Reparationskonferenz nach Spa. Reichskanzler Joseph Wirth berief ihn endlich 1921 zum Minister für Wiederaufbau und Anfang 1922 schließlich zum Außenminister. War Rathenau am Ziel seiner Träume?

Die vom Verfasser ausführlich zitierten Briefe Rathenaus an Lili Kahn, Gattin des AEG-Konzern-Leiters Felix Deutsch, spiegeln Rathenaus Zerrissenheit, seine Zweifel, die Schwierigkeiten, sich mit seiner neuen Aufgabe zu identifizieren und sie gar bewältigen zu können.

Von Salomon erfahren wir, welche Wirkung die Lektüre von Rathenaus „Von kommenden Dingen“ auf ihn ausübte. Bei Rathenaus Vortrag im Oktober 1921 im Frankfurter Volksbildungsverein war er von der „Noblesse seiner Erscheinung“ (S. 106) tief beeindruckt.

Schließlich schildert der Autor Mittäter, deren Vorbereitungen und das Attentat selbst. Alle Attentäter wurden gefasst, wobei die beiden Todesschützen Erwin Kern und Hermann Fischer durch ihren Tod der Bestrafung entgingen. Insgesamt dreizehn Personen wurden angeklagt und mit relativ milden Strafen abgeurteilt. Von Salomon kam mit fünf Jahren Haft davon. Die eigentlichen Drahtzieher und Hintermänner der „Organisation Consul“ mussten sich nicht rechtfertigen und erlebten ein hohes Alter. Hüetlins Fazit: „Sie hatten den wichtigsten deutschen Politiker ihrer Zeit ermordet, aber die Demokratie, ihr eigentliches Ziel, hatte noch überlebt“ (S. 268).

Der Autor markiert die Ermordung des hessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke 2019 als ersten Mord der radikalen Rechten an einem deutschen Politiker seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Dem überzeugten Demokraten wurde zum Verhängnis, dass er die Aufnahme von Flüchtlingen 2015 als bewundernswerte Tat der Bundesrepublik gewürdigt hatte. Schnell wurde er zur Zielscheibe rechtsradikaler und auch antisemitischer Hetzer. Getrieben von heterogenen Zukunftsängsten, fühlen sie sich von der vermeintlichen Überfremdung durch die Flüchtlingswelle bedroht und verstehen sich als Opfer der fortschreitenden Globalisierung und Digitalisierung. Erst die NPD, dann die Pegida und jetzt die AfD wurden zum Sammelbecken orientierungsloser Randständiger und erfahren vor allem in den neuen Bundesländern großen Zulauf. Nicht wenige von ihnen schließen den rechten Terror nicht mehr aus, was die bejubelten Zustimmungen zur Mordtat an Lübcke dokumentieren.

Indem er die Krisenlage der frühen Weimarer Republik mit ihren sich radikalisierenden Feinden als Gefahr vergleichbarer Entwicklungen heute beschwört, versteht sich Hüetlins Essay als ernstzunehmender Warnruf. Hüetlin bietet eine gut komponierte dramatische Reportage ohne Fußnoten und ohne wissenschaftlichen Anspruch, weiß er doch Martin Sabrow an seiner Seite mit dessen grundlegenden Untersuchungen, jetzt auch aktuell: „Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution“ (2022).

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