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Archiv des Liberalismus
Shulamit Volkov: Deutschland aus jüdischer Sicht

Eine andere Geschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart
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Peter Longerich, ein bekannter Historiker über den Nationalsozialismus, hat unlängst die Geschichte des modernen Antisemitismus als „deutsche“ Geschichte beschrieben: als polemisches Gegenbild des deutschen Nationalismus (Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte von der Aufklärung bis heute, München 2021). Shulamit Volkov, 1942 geboren, Professorin in Tel Aviv und Pionierin sozialgeschichtlicher Betrachtung des Judentums, wählt den gleichen Zeitraum, betrachtet Deutschland aus jüdischer Sicht aber geschichtspolitisch letztlich mit „Optimismus“, indem sie nach den Folgen der Geschichte für die Zukunft fragt.

Hannah Arendt hatte einst von einer „verborgenen Tradition“ des Judentums in Deutschland gesprochen: von einer Dialektik von Paria und Parvenu, in der der Paria die relative soziale Sicherheit des Parvenu suchte und doch immer wieder als Paria behandelt wurde. Volkov wagt es dagegen, trotz aller Widerstände, reaktionären Gegenkräfte, Rückschläge und Katastrophen, für das „lange“ assimilatorische 19. Jahrhundert von einer relativen „Erfolgsgeschichte“ zu sprechen: „Über lange Zeitabschnitte konnte die jüdische Geschichte in Deutschland als Erfolgsgeschichte verstanden werden“ (S. 243). Ihre „andere Geschichte“ Deutschlands zielt, analog der Etablierung der Sozial- oder Frauengeschichte, gegen die Marginalisierung auf eine selbstverständliche Einbeziehung und Integration „jüdischer“ Aspekte in die allgemeine Nationalgeschichtsschreibung. Deshalb zieht sie auch wissenschaftsgeschichtliche Nebenbemerkungen zum Stand der Historiographie durchgängig ein. Geschichtspolitisch und wissenschaftsgeschichtlich schließt sie (S. 299 ff.) mit dem aktuellen Stand: Holocaust und jüdisches Schicksal lassen sich heute nicht mehr ignorieren, marginalisieren oder gar verleugnen.

Die knappe Überblicksdarstellung zeigt diese Einbeziehung „jüdischer“ Aspekte an zentralen Wendepunkten: so für das Verhältnis von Haskala und deutscher Aufklärung oder die „Frage der jüdischen Emanzipation“ und staatsbürgerlichen Gleichstellung 1815 beim Wiener Kongress (S. 51 ff.). Sie betont etwa, dass die 1848er-Historiographie die antijüdischen Unruhen und Ausschreitungen des Plebs lange ignoriert habe (S. 92 ff.), zeigt sozialhistorisch auf Basis nüchterner Zahlen, wo genau assimilierte Juden Modernisierungsavantgarde waren: weder in der Landwirtschaft noch der Industrie, aber beim Handel und in den freien Berufen (Arzt, Anwalt), mit ganz signifikantem Vorsprung in der Bildung (gerade auch der Mädchen). Deutschland schien trotz allem um 1900 liberaler zu sein und zu werden als etwa Frankreich oder Russland. Die antisemitische Radikalisierung erfolgte vor und nach 1918 mit Weltkrieg und Revolution, Dolchstoßlegende und der polemischen Identifikation von Judentum, Bolschewismus und Kapitalismus.

Volkov deutet die Debatten um den „Primat des Holocaust“ nur an: die Frage, ob „der Kriegskontext geschaffen wurde, um die vollständige Vernichtung der Juden zu ermöglichen“ (S. 240). Sie skizziert zwar, dass nur wenige Überlebende in Deutschland blieben oder zurückkehrten, erinnert an antisemitische Anschläge und Affären, wie die Walser-Rede (S. 292 ff.), schließt aber dennoch verhalten optimistisch, dass die „andere Geschichte“ Deutschlands, die Einbeziehung jüdischer Sicht, eigentlich schon erfolgreich gewesen sei und sich paradigmatisch durchgesetzt habe. Niemand kann diese Aspekte und Themen heute ignorieren. Wer hier einführende Orientierung sucht, dem sei Volkovs souveräne Übersicht und abgeklärte Darstellung empfohlen.

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