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Kasachstan
Ein Kampf von Eliten auf dem Rücken des Volkes

Kasachstan
© picture alliance/dpa/TASS | Valery Sharifulin  

„Ich habe den Sicherheitskräften und der Armee den Befehl gegeben, ohne Vorwarnung das Feuer zu eröffnen“, teilte der kasachische Präsident Kassym-Schomart Tokajew in einer Fernsehansprache am vergangenen Freitag mit. Man habe es mit „Verbrechern und Mördern“, mit vom Ausland gesteuerten „Terroristen“ zu tun, mit denen verhandeln unmöglich sei. Die Aufrufe aus dem Ausland, wonach man eine friedliche Lösung des Konfliktes herbeiführen solle, bezeichnete Tokajew als „Dummheit“.

 

Die jüngsten Proteste in Kasachstan sind nicht nur auf sozioökonomische Faktoren zurückzuführen, sondern auch das Ergebnis eines Kampfes zweier Elitengruppen. Durch sein rasches militärisches Eingreifen hat sich Russland in diesem Kampf eindeutig positioniert.Insgesamt zeigt das militärische Eingreifen Russlands, dass sich autokratische Regimes im postsowjetischen Raum nur noch durch Gewaltanwendung an der Macht halten können.

 

Seit über einer Woche herrscht nicht nur in der Wirtschaftsmetropole Almaty und der Hauptstadt Nur-Sultan – bekannt nach dem ehemaligen Präsidenten und „Führer der Nation“ Nursultan Nasarbajew –, sondern auch in kleineren kasachischen Städten der Ausnahmezustand. Tausende von Menschen sind als Reaktion auf stark gestiegene Gaspreise auf die Straßen gezogen. Schnell erreichten die Proteste eine neue Dimension, als zu den sozioökonomischen Faktoren auch politische Reformforderungen traten. Hinzu kommen Opportunisten und Kriminelle, die die unübersichtliche Situation für Plünderungen nutzen. Die Gemengelange ist also verworren und die Demonstrierenden sind eine heterogene Gruppe mit unterschiedlichen Interessen und Motivationen.

Während sich Tokajew zunächst entgegenkommend zeigte, indem er die Gaspreiserhöhung zurücknahm und das Kabinett entließ, wurde spätestens mit der Erteilung des Schießbefehls und des Hilfsgesuchs an Russland bzw. die russisch dominierte Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit (ODKB) das wahre Gesicht des Regimes deutlich: Nach Angaben des Staatsfernsehens gab es bisher mindestens 164 Todesopfer und 2.000 Verletze; laut Innenministerium seien 5800 Menschen festgenommen worden.

Während das rasante Tempo der Entwicklungen überraschend erscheinen mag, deuten einige Punkte darauf hin, dass die Proteste nicht ganz unerwartet waren.

Zum einen sind in den vergangenen Jahren Risse in der friedlichen Fassade der postsowjetischen Staaten Zentralasiens zu beobachten. Im Oktober 2020 kam es zum Sturz der Regierung im Nachbarland Kirgisistan, nachdem es zu massiven Protesten gegen die Ergebnisse der Parlamentswahlen, die als gefälscht angesehen wurden, gekommen war. In Usbekistan, einem weiteren Nachbarland, kam es unter Präsident Shavkat Mirziyoyev, der 2016 nach dem Tod des Diktators Karimow und dessen 25-jähriger Schreckensherrschaft an die Macht kam, zu einer gewissen Öffnung des Landes – freilich vor allem mit Bezug auf die Wirtschaft. Im Hinblick auf freie Wahlen und Menschenrechte ist das Regime, das sich nach außen reformorientiert zeigt, weiterhin repressiv.

Zum anderen ist festzuhalten, dass in Kasachstan Regimekritiker seit einiger Zeit systematisch unterdrückt werden. Kasachstan führte, ebenso wie Russland, nicht nur das Label „ausländischer Agent“ für zivilgesellschaftliche Organisationen ein, sondern dehnte es bereits vor Russland auf Privatpersonen aus. Es scheint, als ob sich Tokajew durchaus der Unzufriedenheit der eigenen Bevölkerung bewusst war und mit repressiven Maßnahmen versuchte, sich von seinem Vorgänger Nursultan Nasarbajew zu emanzipieren und seine Macht zu konsolidieren. Nachdem ihm diese zu entgleiten drohte, griff er mit aller Härte gegen die Demonstrierenden durch. Letztlich steht hinter alledem der Kampf zweier Eliten – der alten von „Übervater“ Nasarbajew und der neuen um Tokajew – um die Vorherrschaft im rohstoffreichen Kasachstan. Dass sich Putin mit Tokajew solidarisierte und ihm militärischen Beistand gewährte zeigt, auf wen Russland in Zukunft setzt: den verhältnismäßig neuen und zukunftsträchtigen Machthaber Tokajew, der sogar bereit ist, russische Truppen in Kasachstan zu stationieren.

Insgesamt zeigt das militärische Eingreifen Russlands, dass sich autokratische Regimes im postsowjetischen Raum nur noch durch Gewaltanwendung an der Macht halten können. Mit seiner raschen und entschlossenen Intervention wollte Russland nach außen hin Stärke und Entschlossenheit demonstrieren, auch mit Blick auf die Ukraine-Krise. Der kurzfristig erstarkte Einfluss Russlands durch dessen systemstabilisierende Maßnahmen in Belarus und Kasachstan kann sich mittel- und kurzfristig in das genaue Gegenteil verkehren, wenn antirussische Stimmungen in diesen Ländern zunehmen und zum Katalysator für neue und stärkere nationale Protestbewegungen gegen die einheimischen, von Russland unterstützten Eliten werden.

Ekaterini Georgousaki ist Referentin für Südost- und Osteuropa im Referat Europa der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Potsdam.