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Veranstaltung
Deutsche Gedenkkultur und ihr blinder Fleck Ukraine

Interview mit Bozhena Kozakevych
Gedenkstätte von Babi Jar

Gedenkstätte von Babi Jar

© picture alliance / dpa | Andreas Stein

Die deutsche Gesellschaft wird mit ihrer historischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus oft als positives Beispiel gesehen. Dabei hat sie sich jedoch in ihrem Gedenken an die Opfer des 2. Weltkriegs in Osteuropa fast ausschließlich auf Russland konzentriert. Dass unter den Opfern der sowjetischen Bevölkerung mehr als eine Million Juden auf ukrainischem Territorium und mehrere Millionen Zwangsarbeiter aus der Ukraine nach Deutschland deportiert wurden, findet in der deutschen Gedenkkultur nur selten Beachtung. Auch ein großer Teil der Soldaten der Roten Armee stammte aus der Ukraine.

Als weitere blinde Flecken stehen die Hinrichtung von über 30.000 Juden in der Schlucht von Babyn Jar in Kyjiw oder das vergessene Massaker von Korjukiwka. Auch fehlt es an einem Bewusstsein für zentrale Einschnitte der ukrainischen Geschichte - darunter die Kolonialisierung der Ukraine durch das Russische Reich, die gewaltsame Unterdrückung des nationalen Bewusstseins in der Sowjetzeit und die künstlich initiierte Hungersnot, der Holodomor, unter Stalin. Letzterer wurde erst kürzlich vom Bundestag als Genozid anerkannt.

Anna-Lena Trümpelmann: Wie kann die ukrainische Geschichte einen bedeutenderen Teil in der deutschen Gedenkkultur einnehmen?
Bozhena Kozakevych: Es ist längst an der Zeit, dass die Ukraine im wissenschaftlichen und politischen Diskurs als ein Subjekt wahrgenommen wird. Ein Schritt in diese Richtung wäre die Institutionalisierung der Ukrainistik in Deutschland. Es geht um die Sensibilisierung dafür, dass eine solide Ukraine-Forschung ohne Ukrainisch-Kenntnisse nicht möglich ist. Des Weiteren beschränkt sich ukrainische Geschichte nicht auf die letzten dreißig Jahre, sondern sie musste wie jede andere Nationalgeschichte in ihrer jahrhundertlanger und facettenreichen Diversität mit dem transnationalen Ansatz erforscht werden. Um ein konkretes Beispiel für die notwendigen Veränderungen in der deutschen Gedenkkultur anzuführen, würde ich gerne auf die immer noch vorhandene Gleichsetzung der Sowjetunion mit Russland zu sprechen kommen. Die deutsche historische Verantwortung gegenüber dem russischen Volk sollte im gleichen Maße der Ukraine und Belarus gelten, die im Zweiten Weltkrieg vollständig besetzt waren.

Als Historikerin nehmen Sie eine wichtige Funktion in der Aufarbeitung historischer Ereignisse ein. Wie versuchen Sie auf die Thematik aufmerksam zu machen?
Als Historikerin versuche ich mich neben meiner eigentlichen Tätigkeit in der Forschung und Lehre auch der Aufgabe des Transfers zwischen dem wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs zu stellen. Das geschieht zum Beispiel durch bildungspolitische Projekte, aber auch Podiumsdiskussionen wie dieser.

Welche politischen Schritte können als Unterstützung helfen?
Ich glaube, momentan wäre es am wichtigsten, die Ukraine-Forschung zu institutionalisieren. Dafür sollten die bestehenden Strukturen gestärkt werden. So zum Beispiel wäre es wichtig, den einzigen Lehrstuhl für ukrainische Geschichte in Deutschland – Lehrstuhl für Entangled History of Ukraine an der Europa-Universitäte Frankfurt (Oder) - nachhaltig auszubauen. Die halbe Professur, um die es hier geht, sollte in eine vollwertige Professur umwandelt werden.