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Eine Kolumne von Prof. Dr. Karl-Heinz Paqué

Israel
Robuste Resilienz

Israel ist das Vorbild einer Gesellschaft, die größte Herausforderungen bewältigt. Europa sollte genau hinschauen.
Der Geiselplatz ist ein öffentlicher Platz vor dem Tel Aviv Museum of Art. Nach den Anschlägen vom 7. Oktober errichteten die Familien der Geiseln aufgrund der Nähe zum Hauptquartier der israelischen Streitkräfte ein dauerhaftes Lager auf dem Platz.

Der "Hostage Square" in Tel Aviv. 

© picture alliance / Sipa USA | Lionel Urman

Karl-Heinz Paqué, Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und Präsident der Liberalen Internationale, hat in dieser Woche vier Tage lang Israel besucht - eine Reise, die ursprünglich für den Juni dieses Jahres geplant war, aber zu jenem Zeitpunkt wegen des iranisch-israelischen Krieges nicht stattfinden konnte. Die Stiftung hat seit 1983 ein Büro in Jerusalem - mit jüdischen und palästinensischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Sie unterhält ein dichtes Kontaktnetz von Organisationen, die sich für liberale Werte einsetzen – in Israel und im palästinensischen Autonomiegebiet. Ihr politischer Partner ist die zentristische Partei Yesh Atid. Diese ist auch Mitglied (mit Beobachterstatus) der Liberalen Internationale. Der folgende Bericht schildert politische Eindrücke der Reise. Ein weiterer Bericht wird in Kürze folgen.

Zwei Jahre liegt nun das Massaker der Hamas mit rund 1.200 ermordeten Juden und Jüdinnen und der Geiselnahme von rund 250 Israelis zurück; auch Menschen mit anderer Staatsangehörigkeit gehörten zu den Opfern. Seither herrschte bis vor wenigen Tagen ein Kriegszustand mit massiven Attacken des israelischen Militärs auf Ziele in Gaza. Die letzten lebenden Geiseln sind inzwischen befreit, und ein - allerdings labiler - Waffenstillstand ist erreicht.

Zwei Jahre Kriegsführung mit immer wiederkehrenden Ausnahmezuständen haben natürlich die israelische Gesellschaft verändert, wie könnte es anders sein. Die Erinnerung an die traumatischen Ereignisse vom 7. Oktober 2023 wird überall wachgehalten: am eindrücklichsten auf dem zentralen "Hostage Square" in Tel Aviv, wo Informationstafeln und Installationen errichtet wurden - durch jene große, überaus aktive Zivilgesellschaft, die dieses Land auszeichnet. 

Hostage Aquare

Ein Blick auf den Hostage Square in Tel Aviv, wo eine Uhr die Dauer der Geiselhaft seit dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 unablässig misst.

© Karl-Heinz Paqué 

Aber es gibt darüber hinaus überall im Land - und allemal in den beiden Zentren Jerusalem und Tel Aviv - Erinnerungsfotos mit Namen und Geschichte der Ermordeten und der Geiseln sowie der gefallenen Soldaten, selbst an überaus profanen Orten wie den Fahrstühlen in Parkhäusern. Das berührt den Besucher tief: Von Verdrängen oder Vergessen keine Spur, ganz anders als etwa in Deutschland, wo es ja auch in den letzten Jahren tödliche Terroranschläge gab.

hostage square
© Karl-Heinz Paqué 

Im temperamentvollen pulsierenden Leben von Jerusalem und vor allem von Tel Aviv erinnert allerdings wenig Äußerliches an das Erlittene. Die Straßencafés und Restaurants sind an den sommerlich warmen Herbsttagen voller Leben, es wird gegessen und getrunken, diskutiert und gescherzt. Sicherheitskräfte und Soldaten sind zwar gelegentlich zu sehen. Gleichwohl kann niemand auf Anhieb erkennen, dass diese Gesellschaft zwei Jahre hinter sich hat, in denen rund eine halbe Million Menschen des Landes, die meisten davon als Reservisten, in den Gaza-Krieg zogen - bei einer Bevölkerung von zehn Millionen, was auf deutsche Verhältnisse übertragen einer Mobilisierung von vier Millionen Bewohnern unseres Landes entsprechen würde. Mehr als 900 israelische Soldaten und Soldatinnen sind dabei gefallen, nicht nur im Gazastreifen, sondern auch im Krieg mit der Hisbollah im Norden des Landes. Eine bewundernswerte, weitgehend klaglose Bereitschaft, sich für das eigene Land einzusetzen, im Extremfall mit dem eigenen Leben oder dem Leben der eigenen Söhne und Töchter zu zahlen - und dabei muss die israelische Gesellschaft sogar auf die ultraorthodoxe Minderheit im Lande verzichten, die bislang keinen Militärdienst leistet, eine Regelung, die das Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt hat und die nach zwei Jahren Krieg zu einer der schärfsten innenpolitischen Konfliktlinien geworden ist. Das liberale Israel ist nicht länger bereit, diese Ausnahme hinzunehmen.

Keine Frage: Dieses säkulare Israel ist von jener robusten Resilienz, über deren Erreichen wir in Deutschland gerade erst zu diskutieren beginnen. Natürlich hinterlässt die Anspannung Spuren. So berichtet die Trauma-Hilfsorganisation NATAL, mit der auch die Friedrich-Naumann-Stiftung zusammenarbeitet, über eine drastische Zunahme der Anfragen nach psychologischer Hilfe und Betreuung - und dies nicht nur im Umfeld der Familien von Geiseln und Soldaten. Viel weniger dramatisch, aber gleichfalls augenfällig ist die hohe Besucherfrequenz in der neuen Nationalbibliothek in Jerusalem, die ziemlich genau vor zwei Jahren eröffnet wurde, allerdings wegen des Massakers ohne jede Eröffnungsfeier. Sie ist selbst an ganz normalen Werktagen ständig voll besetzt, was als höchst ungewöhnlich gilt - offenbar, weil die Menschen nicht nur Zerstreuung, sondern auch die kultivierte Ruhe des dezent gestalteten Lesesaals mit Lektüre genießen wollen, fernab von den Härten der Realität.

All dies beeindruckt nachdrücklich. Auch der besorgte Ernst, gepaart mit selbstironischem Humor, den Israelis in Gesprächen über die schwierige Lage ihrer polarisierten Gesellschaft an den Tag legen, hinterlässt beim Besucher tiefe Spuren. Zwar fällt es vielen schwer, die oft oberflächlichen und schlecht informierten, aber meistens barsch moralisierenden Urteile aus dem Ausland über Israel einfach hinzunehmen, aber der Widerspruch und die Analyse fallen nachdenklich aus - und umso nachdenklicher, je kritischer bei den säkular-liberal gesinnten Israelis die Distanz zu den Werten der rechtsorientierten Regierung Netanjahu, die gezielt Rücksicht auf die zum Teil rücksichtslosen Interessen der Siedler und der religiösen Parteien nimmt.

Besonders schwer verständlich bleibt für fast alle jene Neigung im westlichen Ausland zum Boykott Israels, wie sie sich neuerdings in akademischen Kreisen sowie im Umfeld von Kultur und Sport zeigt. Da schwingt dann doch ein fast trauriger Zug der Enttäuschung mit: Wie einfach strukturiert, so fragt man sich, ist wohl das Weltbild jener Generation von Menschen in Europa, den USA und anderswo, die über Jahrzehnte die Früchte der Friedensdividende genießen konnten - ohne jene ständige existenzielle Bedrohung, wie sie das demokratische Israel erleben muss, wo erklärte Erzfeinde wie das Mullah-Regime des Iran nahe Nachbarn sind und überall gewalttätige "Proxies" heranzüchten?

So etwa ist die Stimmungslage unter liberal gesinnten säkularen Israelis, von denen der Verfasser einige in Israel getroffen hat. Bei aller Sorge: Das Leben geht für sie weiter - und wirtschaftlich gar nicht so schlecht, weil auch in dieser Hinsicht das moderne Israel der Hochtechnologie und Start-up-Kultur nicht zum ersten Mal eine bemerkenswerte Resilienz zeigt. Zwei Jahre Krieg mit hohen finanziellen Kosten, hunderten von Gefallenen und einer gesamtgesellschaftlichen Traumatisierung haben keineswegs die Wirtschaft des Landes in die Knie gezwungen. Viele unternehmerisch tätige Soldaten haben sogar an der Front, so wird berichtet, ihre jungen Betriebe weitergeführt - gewissermaßen digital. Am Wachstum der Wirtschaft - aktuell leicht geschwächt, aber robust - ist dies zu erkennen, ebenso wie an der gesunden Leistungsbilanz mit Exportüberschüssen sowie einer Preisinflation, die sich trotz der Kriegsfolgen in Grenzen hält.

Fazit: eine bemerkenswert resiliente Nation. Wir Deutsche sollten genau hinschauen. Wir könnten viel davon lernen.