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Internationale Politik
Bulgarien – Rotation schlägt Wahldauerschleife

Der neu gewählte bulgarische Ministerpräsident Nikolay Denkov

Der neu gewählte bulgarische Ministerpräsident Nikolay Denkov.

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Valentina Petrova

Bulgarien hat eine neue Regierung, und sie ist westlich ausgerichtet: Die beiden Lager links und rechts der Mitte, bislang erbittert befeindet, haben sich zusammengerauft und unterstützen aus dem Parlament heraus eine Expertenregierung; der Regierungschef, so der Plan, soll alle 9 Monate rotieren. Über die Entwicklung sprach Alexander Andreev von der Deutschen Welle mit FNF-Regionalbüroleiter Martin Kothé in Sofia:

Deutsche Welle: Herr Kothé, wie wird der Amtsantritt der neuen bulgarischen Regierung in Deutschland empfunden und kommentiert?
Martin Kothé: Ich würde sagen, es ist wohl eine Mischung aus Erleichterung, dass die Regierungsbildung gelungen ist, Hoffnung, dass es Stabilität und Tatkraft gibt, und Bangen, ob es gut geht. Und mir fällt auf: Diese Gefühlsmischung gibt es nur, wenn man merkt, dass die Lage nicht mehr voll unter Kontrolle ist. Und es stimmt ja auch: Wir stoßen gerade in unbekannte Gewässer vor, und natürlich kommt da Unsicherheit auf. Aber so ist das Leben: Wir alle sind in Gottes Hand, und manchmal merken wir das eben besonders deutlich. Und dann sollten wir unsere Kraft dafür einsetzen, dass er möglichst wenig Überstunden machen muss, finde ich.     

In Bulgarien regen sich viele Menschen darüber auf, dass die PP/DB doch mit GERB und Borissow zusammenregieren, wo sie jahrelang den ehemaligen Ministerpräsidenten und seine Partei wegen Korruption scharf angegriffen haben. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Ich kann die Aufregung gut verstehen. Aber sie führt ja nicht nach vorne. Wären Neuwahlen die bessere Alternative? Ich meine, nein. Die vielen Neuwahlen der vergangenen beiden Jahre haben nur dazu geführt, dass die Demokratie in Bulgarien müde gemacht worden ist. Und die Übergangsregierungen haben auch nicht weiter geführt, wie denn auch? Nützlich war das alles nur für die Gegner der Demokratie. Ich meine, ein Neuanfang über Gräben hinweg ist jetzt der bessere Weg. Natürlich ist es ein Experiment. Aber die Verantwortlichen auf beiden Seiten haben gezeigt, dass sie es ernst meinen und die Sache nicht als Spiel begreifen. Für unsere Partnerparteien Da, Bulgaria und PP lege ich meine Hand ins Feuer: Sie wissen, dass sie mit diesem Experiment ein existenzielles Risiko eingehen, und sie tun es für Bulgarien.

Welche Schwerpunkte sollte die neue Regierung aus Ihrer Sicht ganz oben auf der Liste setzen?
Es sind die Schwerpunkte, die sich die neue Regierung selbst gesetzt hat: Schengen, Stärkung der Wirtschaft, und Verfassungsreform, damit Bulgarien sich aus dem Klammergriff von oligarchischen Strukturen und russischer Einflussnahme befreien kann. Wenn das gelingt, dann wird Bulgarien einen entscheidenden Beitrag für eine gute Zukunft von ganz Europa geleistet haben: Das ist doch eine Aufgabe, die den Einsatz lohnt, meine ich.

Bulgarien gilt im europäischen Vergleich als sehr Russland- und Putin freundlich. Der Krieg tobt nur ein paar Hundert Kilometer von Bulgarien entfernt, und das Land befindet sich dauerhaft in einer politischen und Institutionellen Krise. Wird das in Berlin wahrgenommen?
Aus meiner Sicht nicht in ausreichendem Maße. Leider. Aber darin liegt auch eine Chance. Ich komme gerade zurück von einer Reise nach Georgien und Armenien, und dort habe ich etwas entdeckt, was mir auch in Bulgarien und überall sonst in Südost-Europa auffällt: Gerade da, wo die europäischen Werte noch nicht uneingeschränkt gelten, sind sie den Menschen ein echtes Herzensanliegen, das die demokratischen Reformer antreibt und motiviert. Im Westen dagegen werden die Werte schon lange nur noch als selbstverständliche Rechte wahrgenommen, und aus den Rechten werden dann Ansprüche abgeleitet, die man vom Staat einfordert. Die Werte verkümmern also zu individuellen Ansprüchen; sie sind gar nicht mehr lebendig in den Herzen wie in Osteuropa.

Und dazu kommt hierzulande und in der Region insgesamt bei den demokratischen Reformern auch ein beeindruckender, tiefer Patriotismus, der ihnen wichtiger ist als das eigene, persönliche Vorankommen in der Politik. Es entsteht also in Osteuropa etwas Neues, etwas Eigenes aus der Verbindung von demokratischer Werteorientierung und lebendigem Patriotismus, was original von hier ist und von nirgendwoher kopiert. Das kann eine Kraftquelle für unser altes Europa insgesamt werden, die viel Dynamik und Veränderung bewirken kann. Ich finde, darauf darf man stolz sein.

Welche Gefahren sehen Sie für die Demokratie und den Frieden in Bulgarien?
Wir erkennen, dass der Kreml darauf lauert, Bulgarien und seine Demokratie zu unterwandern und zu zerstören, die demokratischen Institutionen der Lächerlichkeit preiszugeben und den verletzten Stolz vieler Menschen dazu zu nutzen, den Rechtspopulismus zu stärken. Aber der russische Angriff auf die Ukraine ist eine Wendemarke in der Auseinandersetzung zwischen Autokratie und Demokratie, die das politische Leben in den vergangenen 10 bis 15 Jahren geprägt hat: Die Autokratie hat sich selbst demaskiert und ihre hässliche Fratze darunter gezeigt: Es geht ihr nicht um die Menschen und ihre Würde, es geht ihr nur um Unterdrückung, Gewalt und Brutalität. Jeder kann es jetzt sehen und begreifen, und darin liegt eine neue Chance für die Demokratie.

Braucht Bulgarien tatsächlich eine Verfassungs- und Justizreform?
Ohne Zweifel, ja. Die vergangenen Jahre haben deutliche Schwächen in der bulgarischen Verfassung und im Justizwesen offenbart. Das zu ändern, ist der erste Schritt für einen Aufbruch Bulgariens in die Zukunft. Die dafür notwendige Zweidrittelmehrheit herzustellen, wird ein schmerzhafter Prozess. Aber es führt kein Weg darum herum, meine ich. Wir werden in diesem Prozess erleben, wem es ernsthaft um Bulgarien geht, und wer nur seine eigenen Interessen verfolgt. Daran wird jeder Politiker gemessen, der sich an diesem Prozess beteiligt, und jeder Bürger wird es erkennen und seine Schlüsse daraus ziehen.

Wie beurteilen Sie den jetzigen Kampf zwischen den Institutionen, bzw. zwischen Borissow und Geschew?
Der Kampf der beiden Personen ist wie ein Kampf zwischen Dinosauriern vor dem Aussterben. Wichtiger ist der Kampf um die Institutionen. Wenn Boyko Borissow sich auf diesen Kampf für starke Institutionen einlässt und ihn durchkämpft, und dabei seine persönlichen Interessen zurückstellt, dann hätte er sich um Bulgarien verdient gemacht.

Die DPS ist erneut auf die politische Bühne getreten – und versucht Herrn Peewski in den Verfassungsausschuss herein zu boxen. Wie erklären Sie sich das? Herr Peewski steht ja unter Magnitsky-Sanktionen. Und die DPS ist Mitglied von ALDE…
Wir brauchen nicht darum herumzureden: Die DPS ist jetzt in einer Schlüsselposition, wenn es um die notwendige Verfassungsreform geht, und womöglich hat sie auch mitzureden, wenn es um den Bestand der Regierung geht. Ich bin mir sicher, sie ist gerade mächtig stolz auf sich selbst. Aber in Wahrheit ist das egal: Man kann auch in eine Schlüsselposition geraten, weil einfach niemand anderer mehr übrig geblieben ist, und schon ist die Luft raus. Wir sollten nicht vergessen: auch für die DPS geht es jetzt um existenzielle Fragen, die sie beantworten muss. Sie muss sich entscheiden, ob sie einen Beitrag für eine gute Zukunft Bulgariens leisten will, oder ob sie das Land zurück in die Vergangenheit führen will. Wenn sie sich für die zweite Option entscheidet, dann wird das auch Folgen für ihre Reputation auf europäischer Ebene haben, und zwar weit über ALDE hinaus. Kissinger soll einst spöttisch gefragt haben, welche Telefonnummer hat Europa? Nun, Europa hat viele Telefonnummern, und ich kann mir vorstellen, dass in den kommenden Tagen und Wochen viele Anrufe aus Europa in Sofia eingehen, in denen nach zwei Namen gefragt wird: Peevski und Magnitsky. Viel hängt davon ab, welche Antwort am anderen Ende der Leitung gegeben wird.

Best case und worst case scenario für Bulgarien?
Bulgarien steht mit dieser Regierungsbildung an einer wichtigen, vielleicht entscheidenden Wendemarke in seiner demokratischen Geschichte, und ich werbe dafür, denen zu vertrauen, die sich der großen Veränderungsaufgabe ernsthaft und gewissenhaft verschrieben haben. Es ist ein Vertrauen auf Vorschuss, ja. Aber ich finde, diese Politiker haben das Vertrauen durch ihren Einsatz für das Land und durch ihre dabei belegte persönliche Integrität in kritischer Zeit verdient. Wenn wir ihnen die Unterstützung aufkündigen, stärken wir diejenigen, für die der Parlamentarismus nur eine Fassade ist, hinter der sie ihre eigenen wirtschaftlichen oder politischen Interessen verstecken. Wir sollten es nicht so weit kommen lassen.    

 

Dieses Interview wurde erstmals am 13. Juni 2023 bei der Deutschen Welle auf bulgarisch veröffentlicht.