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Vorwahlbericht
Chile vor den Wahlen zum Verfassungskonvent

Das lateinamerikanische Land steht vor den Wahlen zu einer neuen Verfassung
Campaign Planning - Online Programme for the Chilean Party Evópoli

Am 16. Mai finden in Chile Kommunalwahlen und parallel dazu die Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung statt. Die Rahmenbedingungen könnten nicht ungünstiger sein:

Zum einen musste der ursprüngliche Wahltermin vom 21. April aufgrund der COVID-Situation um vier Wochen verschoben werden. Das Andenland ist zwar Vorreiter hinsichtlich der Impfung seiner Bevölkerung, in einigen Medien wurde es gar zum Impfweltmeister hochstilisiert. Trotzdem stiegen in den Wochen vor dem ursprünglichen Wahltermin die Infektionszahlen so stark an, dass die Regierung im Einvernehmen mit dem Kongress die Wahlen auf den 16. Mai verschieben musste. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielschichtig:  Chile verimpfte in hohen Mengen den Impfstoff SINOPHARM, der sich mittlerweile als wesentlich weniger effizient als angenommen herausstellte. Die geimpften Bürger hingegen hielten sich in Unkenntnis dieser Fakten für gut geschützt und vernachlässigten die weiterhin empfohlenen Vorsichts- und Vorbeugemaßnahmen.

Zum anderen befindet sich Chile weiterhin in einer politischen Dauerkrise. Die Unruhen, die im Oktober 2019 ausbrachen und sich bis zum Beginn der Pandemie hinzogen, hatten sich zwar angesichts des Verfassungsreferendums etwas beruhigt. Auch das im Vergleich zu anderen südamerikanischen Ländern bessere COVID-Management der Regierung Piñera trug zu einer weiteren Stabilisierung der politischen Verhältnisse bei. Mit der Verschlechterung der COVID-Situation begannen die Unruhen wieder, weil nicht nur die lang gehegte Hoffnung auf eine langsame Normalisierung schwand, sondern auch die Armut und Notsituation breiter Teile der Bevölkerung anstieg. Entgegen der Empfehlung hochrangiger Wirtschaftsexperten entschied sich die Regierung Piñera unter dem Druck des Parlamentes und der Gesellschaft, weitere vorzeitige Auszahlungen von den Rentenkonten zu ermöglichen, die in den kommenden Jahren das Sozialsystem Chiles stark belasten werden.

Unter diesen Voraussetzungen wählen die Chilenen am 16. Mai landesweit ihre kommunalpolitischen Vertreter und die Mitglieder für den Verfassungskonvent, der aus 155 Bürgern bestehen wird, die ausschließlich für diesen Zweck gewählt werden. Die Wahl erfolgt durch ein proportionales System mit Listen, das die Schaffung von Wahlbündnissen und damit indirekt politische Parteien begünstigt und unabhängigen Kandidaten schadet. Deshalb haben sich die meisten unabhängigen Kandidaten in den Listen von politischen Parteien oder Parteibündnissen registrieren lassen, um überhaupt eine Chance zu haben. Der Verfassungskonvent hat nach seiner Konstituierung 9 Monate Zeit, mit einer Zweidrittelmehrheit einen Verfassungsentwurf zu verabschieden, über den dann in einem Referendum abgestimmt werden muss. Im Ausnahmefall kann der Konvent einmalig um 3 Monate verlängert werden. Nach Abgabe des Verfassungsentwurfes endet die Amtszeit des Konvents, er löst sich danach auf.

Die Zusammensetzung des Konvents wird entscheidend dafür sein, in welche Richtung sich der Andenstaat entwickelt. Es stehen sich zwei starke „Blöcke“ gegenüber. Neben dem Mitte-Rechts-Bündnis „Vamos Chile“, das zwar auch Verfassungsänderungen vornehmen, dabei aber die grundsätzliche markwirtschaftliche Ausrichtung beibehalten möchte, will das eindeutig links und sozialistisch verortete Bündnis „Frente Amplio“ ein prinzipiell sozialistisches System etablieren und die unzweifelhaften marktwirtschaftlichen Errungenschaften der letzten Jahre „korrigieren“.

Bewertung aus liberaler Sicht

Die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung steht aus liberaler und demokratischer Sicht außer Zweifel. Eine Verfassung, die noch zu Zeiten der Pinochet-Diktatur verabschiedet wurde, ist weder zeitgemäß noch wirklich demokratisch legitimiert. Sicher braucht das Andenland weitgehender Reformen im Bereich der Sozial- und Bildungspolitik. Die Verringerung der sozialen Ungleichheiten ist ebenfalls ein Dauerthema und Problem Chiles. Fraglich ist allerdings, ob man all diese Reformnotwendigkeiten im Rahmen einer Verfassungsänderung oder einer neuen Verfassung regeln kann und sollte. Aus liberaler Sicht setzt eine Verfassung allgemeine Rahmenbedingungen und Regeln, notwendige und konkrete Reformen müssen jedoch in Form von Gesetzen als Ergebnis des regulären politischen Prozesses erfolgen. Auch ist nicht klar, welchen realpolitischen Stellenwert die Verfassungsgebende Versammlung im politischen System Chiles, insbesondere mit Blick sowohl auf das noch existierende als auch auf das im Oktober 2021 neu zu wählende Parlament, einnehmen wird. Inwiefern beeinflussen Diskussionen im Konvent das Verhalten der Kongressabgeordneten und ihre Entscheidungen?

Sorge bereitet zudem eine klar zu erkennende Strategie linker und linksradikaler Parteien und Bewegungen in ganz Lateinamerika. Nicht nur in Chile, sondern in nahezu allen Ländern verfolgen diese politischen Kräfte ein einheitliches und klar definiertes Ziel. Sie nutzen die unzweifelhaft existierenden sozialen Probleme in den Ländern, um durch teilweise gewaltsame Unruhen die regierenden nichtsozialistischen Regime in noch größeren Misskredit zu bringen. Neben Chile sind Bolivien, Kolumbien und auch Peru in diesen Kontext zu stellen. Dabei fordern sie radikale Verfassungsänderungen oder neue Verfassungen und eine klare Ablösung der Marktwirtschaft zugunsten sozialistischer Planwirtschaft. Besonders bedenklich sind die Äußerungen einzelner linker politischer Führer, z.B. in Peru, die „regulierend“ in Bereiche wie Presse- und Meinungsfreiheit eingreifen wollen und drohen Parlamente aufzulösen, sollten diese nicht ihren sozialistischen Reformkatalog unterstützen.

Chile war bisher in wirtschaftlicher Hinsicht und auch bei der Armutsbekämpfung ein Vorzeige- und Beispielland. Keines der anderen Andenländer oder südamerikanischen Staaten generell weist in allen internationalen Statistiken derart positive Entwicklungen auf. Sollte sich Chile in Richtung Sozialismus orientieren, so stehen mit Venezuela, Bolivien und Argentinien auf dem Kontinent enge Verbündete zur Verfügung. Nicht vergessen sollte man auch die potentiellen Auswirkungen auf die am 6. Juni stattfindende Präsidenten-Stichwahl in Peru, wo mit Pedro Castillo ein bekennender Marxist und Leninist derzeit in den Meinungsumfragen führt. Sollte dann auch noch Brasilien bei den im Jahr 2022 bevorstehenden Wahlen nach „links“ driften, könnte man quasi den gesamten südamerikanischen Kontinent als sozialistisch verorten, mit nicht zu unterschätzenden Auswirkungen auf den MERCOSUR, die Pazifik-Allianz und die OAS. Für die EU und die USA bedeutete dies einen klaren Verlust an politischem Einfluss mit gleichzeitigem Machtgewinn für China und Russland, die diese linken Bewegungen mehr oder weniger offen fördern.