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Max Weber
100 Jahre Max Weber: Sein Denken lebt fort

Max Weber 1917 auf der Lauensteginer Tagung
Max Weber 1917 auf der Lauensteginer Tagung © Wikimedia Commons

Es waren die Folgen einer weltweiten Pandemie, der Spanischen Grippe, die den großen Soziologen Max Weber vor  100 Jahren, am 14. Juni 1920, das Leben kosteten. Seine Todesumstände sind allerdings nicht die einzige Verbindung zur heutigen Situation in der Corona-Pandemie. Viele seiner Erkenntnisse wirken fort, viele der von ihm gestellten Fragen sind weiterhin aktuell, viele seiner Forschungen im Grund noch immer nicht vollendet.

Max Weber hat uns – auch bedingt durch seinen frühen Tod mit nur 56 Jahren – kein in sich geschlossenes „Werk“ hinterlassen, kein fertiges Theoriengebäude, noch nicht einmal „die“ Webersche Theorie. Sein umfangreicher Nachlass wurde erst nach seinem Tod von seiner Ehefrau Marianne geordnet und einer größeren Öffentlichkeit (im wahrsten Sinne des Wortes) zugänglich gemacht. Dies allein schon war eine große Leistung, denn Max Weber hatte von früher Jugend an unablässig Wissen in sich aufgenommen, es durchdacht und weitergedacht, daraus Schlussfolgerungen gezogen und weitere Fragen entwickelt und eine ungeheure Menge davon niedergeschrieben – in Aufsätzen, Reden, Studien, Briefen und vielem mehr.

Der Umfang dieses Werks zeigt die gewaltige Dimension des Denkens Max Webers. Sein Interesse kannte keine fachlichen Grenzen: Nach seiner Ausbildung war er eigentlich Jurist. Er widmete sich aber frühzeitig grundlegenden Fragen der Nationalökonomie, behandelte aber auch viele Felder der Kultur-, Sozial- und Geschichtswissenschaften und der allgemeinen Wissenschaftslehre. Man kann ihn, neben Ferdinand Tönnies und Georg Simmel, als einen der „Gründerväter“ der deutschen Soziologie bezeichnen.

Als Mensch, als Wissenschaftler, als Politiker war Max Weber ein Kind seiner Zeit. In sein Geburtsjahr 1864 fiel der Beginn des ersten der so genannten deutschen Einigungskriege. Seine Jugend und Ausbildung sowie der Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere lagen in der Zeit des deutschen Kolonialismus und Imperialismus. Sein Denken und seine politischen Auffassungen waren geprägt vom Nationalgefühl, das in jener Zeit herrschte. Aus gutbürgerlichem, liberal gesinntem Elternhaus stammend, mit liberaler Politik und liberalen Politikern vertraut, in intellektuellen Debatten zu Politik und Gesellschaft geschult, sah Weber sich selbst als einen „politischen Professor“ oder als einen „Gelehrtenpolitiker“. Nach dem Ersten Weltkrieg bis zu seinem war er Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei, vielleicht ein typisches Mitglied in jener liberalen Partei Friedrich Naumanns, die zum Sammlungsort großer Intellektueller wurde.

Was hat dieser frühe „Politikberater“, wie man ihn heute nennen würde, hinterlassen? Warum ist vieles, was er geschrieben, erforscht oder auch nur gedacht hat, auch heute noch aktuell?

Wesen des Kapitalismus

Die grundsätzlichen Fragen von Wirtschaftsordnung, Verantwortung und Lebensführung stellen sich in aktuellen Krisen genauso, wie sie sich zu Webers Zeiten gestellt haben.

Weber sah eine „Wahlverwandtschaft“ zwischen Protestantismus und Kapitalismus und letzteren als Antriebsmotor der modernen Gesellschaft und dabei als „schicksalsvollste Macht des modernen Lebens“. In seinen Forschungen beschäftigte er sich zunächst mit der Ausarbeitung einer „Theorie sozialer Ungleichheit“. Er definierte in diesem Sinne die Bedingungen des Kapitalismus und verankerte ihn im „okzidentalen Rationalismus“, geschildert als einen Prozess von Intellektualisierung und Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Er erkannte die „rational-kapitalistische Organisation von (formell) freier Arbeit“ und damit die „Entstehung des abendländischen Bürgertums und seiner Eigenart“ als das Spezifikum des „Okzident in der Neuzeit“.

Weber ging davon aus, dass das Zusammentreffen bestimmter ökonomischer Einstellungen mit einem religiös begründeten innerweltlich-asketischen Berufsethos die Entstehung des modernen, betriebswirtschaftlichen Kapitalismus befördert habe. Und umgekehrt: Der ökonomische Rationalismus ist laut Weber „in seiner Entstehung auch von der Fähigkeit und Disposition der Menschen zu bestimmten Arten praktisch-rationaler Lebensführung überhaupt abhängig“.

In Krisen zeigt sich, was passiert, wenn die Wirtschaft ihre „Ordnung“, ihre Ratio verliert. Ralf Dahrendorf hat das 2009 mit dem Begriff des „Pumpkapitalismus“ belegt, in dem „der entwickelte Kapitalismus von den Menschen Elemente der protestantischen Ethik am Arbeitsplatz (verlangt), aber das genaue Gegenteil jenseits der Arbeit, in der Welt des Konsums“. Es werde dabei das Webersche Prinzip missachtet, dass „der Anfang des kapitalistischen Wirtschaftens eine verbreitete Bereitschaft verlangt, unmittelbare Befriedigung aufzuschieben“. Ein wenig mehr an protestantischer Verzichtsethik könne es also ruhig sein, meinte Dahrendorf: „Alles Schuldenmachen hat Grenzen.“ Wer mag da widersprechen, auch anno 2020?

Konfliktliberalismus

Webers Arbeiten an der Schwelle zum und zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschäftigten sich mit dem Übergang zur „Hochmoderne“. Es ging ihm darum, die menschliche Gemeinschaft zu ordnen, zu systematisieren, um sie überblicken zu können. Der moderne Mensch, so sagte er 1917 in seinem berühmten Vortrag „Wissenschaft als Beruf“, lebe in heterogenen Ordnungen und „fremdbrüderlichen Dauerkonflikten“ und müsse mit „Wertkollisionen“ in allen Lebensbereichen umgehen. Intellektualisierung und Rationalisierung hätten die Welt „entzaubert“ – was aber nicht bedeute, dass die allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man stehe, zugenommen hätte. Sondern: Durch technische Mittel und Berechnung könne man, wenn man denn wolle, nun alles wissen. Niemand müsse mehr „zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten“. Eine Ordnung, ein System hinter den Dingen ist, so Weber, prinzipiell erfahrbar.

Diese Einsicht prägt unser Denken auch heute. Der Zauber der Welt besteht im Fortschritt der menschlichen Erkenntnis. Aber der Weg dorthin ist steinig, denn er ist geprägt von zahllosen, und manchmal auch unlösbaren Dauerkonflikten. Wenn es keine festen Wahrheiten gibt, wenn bisherige Erkenntnisse immer auch – dem kritischen Rationalismus Karl Poppers folgend – auf den Prüfstand gestellt und verifiziert oder falsifiziert werden müssen, dann mag das keine bequeme Welt sein. Aber es ist eine offene und freie Gesellschaft, die man gegen jene verteidigen muss, die sie mit Verschwörungstheorien oder „Fake News“ bekämpfen.

Herrschaftssoziologie und Demokratie

Weber baute seine Definition legitimer Herrschaft auf seinen allgemeinen soziologischen Begriffen auf. Auch ein Herrschaftsverhältnis sah er durch „soziales Handeln“ definiert, das sich „auf das Verhalten anderer bezieht und daran in seinem Ablauf orientiert ist“. Herrschaft war für ihn nicht die Ausübung von Zwang, sondern „die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.“ Wesentlicher Faktor ist „Legitimität“, definiert als Akzeptanz der Herrschenden durch die Beherrschten. Die Begründung für diese Akzeptanz fasste er weit: „[Herrschaft] kann rein durch Interessenlage, also durch zweckrationale Erwägungen von Vorteilen und Nachteilen seitens des Gehorchenden, bedingt sein. Oder andererseits durch bloße ‚Sitte‘, die dumpfe Gewöhnung an das eingelebte Handeln; oder sie kann rein affektuell, durch bloße persönliche Neigung des Beherrschten, begründet sein.“

Weber sah drei Typen legitimer Herrschaft: legale Herrschaft, traditionale Herrschaft oder charismatische Herrschaft. Man dürfte sich darauf einigen können, dass im modernen Verfassungsstaat liberaler Prägung weder das Vorliegen von Charisma noch die Wahrung einer traditionalen Linie zur Herrschaftsausübung primär berechtigen – auch wenn für Spitzenpolitiker ein wenig Charisma und für Parteien ein gewisses Maß an weltanschaulicher Festigkeit nicht schaden. Allgemein aber dürfte am ehesten die Legitimität demokratischer Herrschaft auf rationale Gründe gebaut sein, wie den „Glauben an die Legalität gesetzter Ordnungen und des Anweisungsrechts der durch sie zur Ausübung der Herrschaft Berufenen“.

Auch hier gehen aber die von Max Weber initiierten Diskussionen weiter. Wie steht es um die Akzeptanz des Anweisungsrechts der Bürokratie? Wie steht es um die Legalität überkommener Vorschriften und Satzungen? Wie steht es um die Akzeptanz demokratisch getroffener Mehrheitsentscheidungen? Die liberale Demokratie muss vor diesen Diskussionen keine Angst haben. Ganz im Gegenteil, sie sollte sie sogar fördern.

Position des Politikers

Von Theodor Heuss ist ein Vorschlag überliefert, wie Berufspolitiker Selbstkritik üben und sich vor Überheblichkeit schützen könnten: Sie sollten Max Webers Rede „Politik als Beruf“ lesen.

Der 1919 von Weber frei gehaltene und mitstenographierte Vortrag wurde, von Weber nachträglich noch erweitert, zu seinem bekanntesten „Werk“. Weber lieferte hier die wesentlichen Grundzüge seiner Auffassungen zur Gestaltung des Übergangs von der Monarchie zur parlamentarischen Demokratie. Kernfrage: Wie ist unter den Bedingungen des (globalisierten) Kapitalismus in einem modernen Massenstaat eine demokratische Ordnung möglich? Und er beschrieb dann die Unterscheidung des Berufspolitikers vom Politiker aus Berufung.

Vor allem diese Unterscheidung ist im Gedächtnis geblieben. Weber benannte die drei wichtigsten Qualitäten eines Politikers, nämlich sachliche Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und ein distanziertes Augenmaß. Und er sah die größte Schwäche für einen Politiker in der Eitelkeit, die diesen unsachlich und verantwortungslos erscheinen lasse. Mit den Begriffen Verantwortungsethik (die Folgen des Handelns bedenken!) und Gesinnungsethik (das moralisch Richtige tun!) formulierte er zentrale Handlungsmerkmale zur Klassifizierung auch der modernen Berufspolitikerinnen und -politiker. 100 Jahre nach seinem Tod lebt das Denken Max Webers fort. Gibt es ein größeres Kompliment für einen liberalen Intellektuellen?