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Chile
Zeit für Veränderung

Proteste in Santiago
Proteste gegen die Regierung in Santiago, Chile. © picture alliance / AA | Cristobal Saavedra Vogel

Die derzeit gültige Verfassung Chiles vom 21. Oktober 1980 wurde noch von der autoritären Regierung Augusto Pinochets verkündet. Nach langen politischen wie gesellschaftlichen Protesten und Konflikten, die im Oktober 2019 im Zusammenhang mit sozialen Unruhen eskalierten, einigten sich die politischen Akteure schließlich darauf, dass eine Verfassungsänderung notwendig ist. Am 25. Oktober 2020 findet deshalb in Chile ein nationales Referendum statt, bei der die Bürger darüber abstimmen, ob und -wenn ja- wie die Verfassung geändert werden soll. Alle Umfragen deuten darauf hin, dass die Bürger mehrheitlich für eine Verfassungsänderung stimmen werden.

Unklar ist jedoch trotz dieser klaren Umfragetrends, inwieweit die COVID-Pandemie das Abstimmungsergebnis beeinflussen wird, denn es sich noch viele Gemeinden in Quarantäne befinden. Es ist jedoch höchst unwahrscheinlich, dass die Option „Ablehnung“ die Mehrheit gewinnt.

Die Bürger müssen am 25. Oktober auch darüber entscheiden, wie die neue Verfassung –  sofern sich diese Option eine Mehrheit erhält – ausgearbeitet werden soll: durch eine „Convención Constitucional“ (reiner Verfassungskonvent) oder eine „Convención Mixta" (gemischte Kommission).

Der „reine Verfassungskonvent“ wird aus 155 Bürgern bestehen, die speziell für diese Zwecke gewählt werden. Die gemischte Kommission besteht aus 172 Mitgliedern, von denen die eine Hälfte aus 86 speziell gewählten Bürgern bestehen wird, während die andere Hälfte 86 Parlamentarier bilden.

In beiden „Gremien“ werden die Bürgervertreter am 21. April, zusammen mit den Kommunalwahlen, gemäß den Regeln für die Wahl der Abgeordneten gewählt. Es ist also ein proportionales System mit Listen, das die Schaffung von Wahlbündnissen begünstigt, was damit indirekt politische Parteien begünstigt und unabhängigen Kandidaten schadet. Im Falle der gemischten Kommission werden die 86 Bürgervertreter bei den Kommunalwahlen gewählt, während die 86 Parlamentarier (Senatoren und Abgeordnete) vom Parlament bzw. den Parteien gemäß der derzeitigen Parteienproporze in beiden Kammern in die Kommission entsandt werden. Die gewählten Mitglieder des Verfassungskonventes können nicht bei den im Oktober 2021 stattfindenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen kandidieren.

Der Verfassungskonvent hat nach seiner Konstituierung 9 Monate Zeit, mit einer Zweidrittelmehrheit einen Verfassungsentwurf zu verabschieden, über den dann in einem Volksreferendum abgestimmt werden muss. Im Ausnahmefall kann der Konvent einmalig um 3 Monate verlängert werden. Nach Abgabe des Verfassungsentwurfes endet die Amtszeit des Konvents, er löst sich danach auf.

Die Position der politischen Parteien

Die regierende VAMOS-Chile Koalition ist insgesamt, aber auch innerhalb der verbündeten Parteien, in zweifacher Hinsicht gespalten. So gibt es weder hinsichtlich Befürwortung oder Ablehnung einer Verfassungsreform noch in der Frage Verfassungskonvent oder gemischte Kommission in keiner der Parteien eine einheitliche Position. Die Oppositionsparteien, insbesondere das Linksbündnis Frente Amplio, stehen zwar einheitlich hinter einer Verfassungsänderung, sind aber bezüglich Verfassungskonvent oder gemischter Kommission gespalten, wenn auch die Mehrheit die „gemischte Variante“ präferiert.

Bewertung aus liberaler Sicht

Die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung steht aus liberaler und demokratischer Sicht außer Zweifel. Eine Verfassung, die noch zu Zeiten der Pinochet-Diktatur verabschiedet wurde, ist weder zeitgemäß noch entspricht sie einer demokratischen Verankerung. Die zur Abstimmung stehenden Verfahren sind jedoch politisch fragwürdig und bergen ein demokratisches Dilemma. In der Variante des reinen Verfassungskonventes arbeitet zwar ein durch Wahlen legitimiertes Gremium eine neue Verfassung aus, das parallel dazu amtierende Parlament hat aber als verfassungsrechtlich verankerte Legislative keinerlei Einflussmöglichkeiten auf den Prozess. Im Fall einer gemischten Kommission arbeitet zwar die Hälfte der Mitglieder als Parlamentarier an der neuen Verfassung mit, jedoch endet ihr Mandat als Parlamentarier im Oktober 2021. Das heißt, ihr Kompetenz als Mitglieder der gemischten Kommission läuft über ihren Mandatszeitraum hinaus, obwohl sie dafür nicht wie die 86 vom Volk für diesen Zweck gewählten Vertreter legitimiert sind. Außerdem hätte auch das im Oktober 2021 neu gewählte Parlament keinen Einfluss auf den Verfassungsprozess.

Von den im Referendum angebotenen zwei Alternativen scheint die gemischte Kommission im Hinblick auf die Umsetzung und den Prozessverlauf die bessere Variante zu sein. Da sich zumindest die Hälfte der Mitglieder aus der parlamentarischen Arbeit bereits kennt, wäre eine Verständigung und Zusammenarbeit einfacher, zumal auch die andere Hälfte wie schon erwähnt mehrheitlich über Parteilisten oder Listen von Parteienbündnissen gewählt würde. Die gemischte Kommission wäre auch die ökonomisch günstigere Variante, weil die Mitglieder des Verfassungskonventes für den Zeitraum ihrer Arbeit Vergütungen analog der Abgeordnetensaläre erhalten würden.