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Krieg in Europa
Ukraine und die EU: Kandidat auf Probe?

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj

© picture alliance / EPA | SERGEY DOLZHENKO

Eine „historische Woche“ steht der Ukraine bevor – laut ihrem Präsidenten Volodymyr Selenskyj. Bei der Sitzung des Europäischen Rats am 23. bis 24. Juni werden die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union die Entscheidung über den Kandidatenstatus der Ukraine treffen. In der vergangenen Woche hatten bereits Deutschland, Italien und Frankreich die Unterstützung der Kandidatur signalisiert. Auch die Chefin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, hat die Empfehlung für den Kandidatenstatus ausgesprochen, verbunden mit einer Liste von „Hausaufgaben“ für die Ukraine.

Der Kandidatenstatus wäre ein wichtiges politisches Signal für das Land, das derzeit von Russland in einem brutalen Krieg angegriffen wird und das dabei auch die Freiheit im Westen verteidigt. Zudem würden Anreize zur Umsetzung längst fälliger Reformen in der Ukraine gesetzt. Gleichzeitig würden Präsident Selenskyj und sein Team auch klar die Verantwortung für die europäische Zukunft des Landes tragen. Denn die Nicht-Umsetzung erforderlicher Reformen könnte zum Entzug des Kandidatenstatus führen – hier ist die Kommission ganz deutlich in ihrer Ansage. Darüber hinaus würde der Kandidatenstatus für die Ukraine und Moldau auch die Einigkeit der EU zeigen, wenn es um die Verteidigung demokratischer Werte und Offenheit gegenüber Ländern geht, die sich demokratisch entwickeln wollen – und ebenso ein klares Signal der Einigkeit an Russland senden, das auch gegen diese wertegebundene Einigkeit Krieg führt.

De-Oligarchisierungsgesetz

Die Liste der eingeforderten Reformen ist lang. Im Vordergrund stehen Rechtsstaatlichkeit, unabhängige Justiz und De-Oligarchisierung – jene Bereiche, in denen die EU und andere westliche Partner von der Ukraine seit Jahren Reformen fordern (und fördern). Dabei wäre es falsch zu behaupten, die ukrainische Regierung habe bisher keinerlei Erfolge oder zumindest Reformversuche zu vermelden. So wurde auf Vorschlag von Präsident Selenskyj 2021 das De-Oligarchisierungsgesetz beschlossen, das allerdings einige Schwachstellen beinhaltet, unter anderem wegen der großen Entscheidungsmacht des Nationalen Sicherheitsrates (dessen Chef der Präsident selbst ist) darüber, wer als Oligarch zu bezeichnen und eben zu entmachten wäre.

Auch die Rolle der bisher stark von der Politik abhängigen Justiz im Prozess der De-Oligarchisierung ist umstritten. Zwar hat die ukrainische Regierung auf Druck der westlichen Partner die dringend notwendige Justizreform fortgesetzt und eine unabhängige Berufungskommission mit Beteiligung internationaler Experten mit Vetorecht für das Antikorruptionsgericht eingesetzt. Gleichzeitig wurden aber weitere Schritte zur Entkopplung von Justiz und Politik von der Präsidialadministration verzögert, wie zum Beispiel die Besetzung der Leitung der Sonderstaatsanwaltschaft für Antikorruption im Rahmen eines Wettbewerbs. Allgemein ist die Korruption weiterhin endemisch in der Ukraine, besonders die so genannte „Grand corruption“, Korruption auf hoher Ebene.

Präsident Selenskyj: Beispiellose hohe Zustimmungs- und Vertrauenswerte

Nun hat die ukrainische Regierung die historische Chance zu zeigen, dass sie diese Reformen ernst nimmt und sie sorgfältig umsetzt, um die Beitrittsperspektive nicht zu verspielen. Präsident Selenskyj hat die notwendige Mehrheit im Parlament und genießt beispiellos hohe Zustimmungs- und Vertrauenswerte in der Bevölkerung seit Kriegsbeginn. Anstatt diese Unterstützung für die Einrichtung eines autoritären Regimes zu missbrauchen, wie Wladimir Putin und Aliaksandr Lukaschenka es einst getan haben, kann Selenskyj seine Macht nutzen, um endgültig den europäischen Weg einzuschlagen. Die ukrainische Bevölkerung, die zurzeit einen mutigen Kampf für die Souveränität ihres Landes austrägt, hat diese Perspektive mehr als verdient. Die ukrainische Zivilgesellschaft hat insbesondere in Zeiten des Krieges ihre Stärke und Reife gezeigt und wird zweifellos ihre Rolle als Watchdog bei den Reformen wahrnehmen können.

Während die Stellungnahme der Kommission keine klaren Fristen für die Umsetzung geforderter Reformen setzt, ist jedem klar, dass es lange dauern wird, bis die Ukraine Voll-Mitglied der Europäischen Union wird. Der Krieg ist sicherlich nicht förderlich dabei – auch wenn die Verkhovna Rada, das ukrainische Parlament, ihre Handlungsfähigkeit unter Raketenbeschuss auf Kyjiw demonstriert hat, werden die Arbeit der Abgeordneten und die Zusammenkünfte zuständiger Arbeitsgruppen unter Kriegsbedingungen nicht einfach sein und den Prozess verzögern. Allgemein sind der Kriegszustand in der Ukraine und die Okkupation einiger ukrainischer Gebiete (Luhansk, Donetsk, Halbinsel Krim und weitere 2022 besetze Gebiete) die Hauptargumente der Kritiker des Kandidatenstatus. Dabei vergisst man, dass zum Beispiel auch Zypern 2004 sogar Mitglied der EU geworden ist, ohne die Kontrolle über sein vollständiges Staatsgebiet zu haben.

Die Ukraine muss eine klare Antwort bekommen

Es ist auch richtig, wenn die Ukraine den Weg zur EU gemeinsam mit ihrer Nachbarin, der Republik Moldau, gehen kann. Der Zusammenhalt beider Länder ist seit Kriegsbeginn so stark wie nie zuvor – Moldau hat sich als starke, empathische und zuverlässige Partnerin in der Krise gezeigt. Auch sind die moldauische Regierung und Präsidentin Maia Sandu voller Tatendrang, ihr Land zu einem europäischen Land zu reformieren. Die beiden Länder werden hoffentlich einander motivieren und sich gegenseitig anspornen, ihre „Hausaufgaben“ zu erledigen.

Jetzt ist aber zunächst einmal der Europäische Rat dran. Es dürfen keine leeren Versprechen gemacht werden. Die Ukraine muss eine klare Antwort bekommen – sowohl auf die Frage nach der EU-Mitgliedschaft als auch auf die Frage der Unterstützung im Krieg. Neben der europäischen Perspektive braucht das Land dringend finanziellen, humanitären und vor allem militärischen Beistand. Hier könnte die EU ihre Einigkeit stärker demonstrieren – auch in Richtung Russland.

Anna Kravtšenko, Projektleiterin Ukraine und Belarus.