EN

Türkei-Wahlen am 14. Mai
Steht die Türkei vor der Wende?

Wahlen am 14. Mai
© Sener Toktas / AA

Am 14. Mai steht die Türkei vor der Wahl: Wird Recep Tayyip Erdoğan seinen autoritären Kurs fortsetzen können oder muss er den Weg freimachen für eine Rückkehr zu Rechtsstaatlichkeit, bürgerlichen Freiheiten und echter Demokratie? Es geht um viel in diesen Wahlen, deren Ausgang vier Wochen vorher noch nicht seriös vorherzusagen ist: die Überwindung der Inflationskrise, die Wiederherstellung von Presse- und Meinungsfreiheit, Rechten von Frauen und Minderheiten sowie einer unabhängigen Justiz wie auch um die Chance, einen dysfunktional gewordenen Staat wieder in ein System der Gewaltenkontrolle und der professionellen Bürokratie zu überführen – zum Wohle aller Menschen in der Türkei.

Kemal Kiliçdaroğlu – der Herausforderer

Obwohl auch die 600 Sitze im Parlament neu gewählt werden, richten sich die Blicke vor allem auf die Präsidentschaftswahl – denn ob es zu einem substanziellen politischen Wandel kommen kann, hängt wesentlich davon ab, ob Erdoğan geht oder bleibt. Besiegen soll ihn der CHP-Vorsitzende Kemal Kiliçdaroğlu, auf den sich die Nationenallianz Anfang März offiziell verständigt hat. Die Nominierung war keineswegs unumstritten, denn in den Umfragen der vergangenen Monate erschien er nicht als der aussichtsreichste Kandidat, war dem Amtsinhaber oft nur knapp überlegen. Deutlich erfolgversprechender erschienen die Bürgermeister von Istanbul und Ankara, Ekrem İmamoğlu und Mansur Yavaş, beide ebenfalls von der CHP. Dass die Wahl letztlich nicht auf sie fiel, dürfte mehr Gründe haben als den persönlichen Ehrgeiz Kiliçdaroğlus. Ekrem İmamoğlu ist im Dezember 2022 wegen Beleidigung des Obersten Wahlrates verurteilt worden, und wenngleich das Urteil noch in höheren Instanzen bestätigt werden muss, besteht das Risiko, dass ihm jede politische Betätigung verboten wird. Weitere augenscheinlich politisch motivierte Verfahren gegen ihn sind anhängig. Mansur Yavaş hingegen ist aufgrund seiner Vergangenheit in der rechtsextremen MHP für die Kurden kaum wählbar, die am Ende als Königsmacher fungieren dürften.

Gegen Kiliçdaroğlu hatte sich vor allem die Vorsitzende der İYİ-Partei Meral Akşener ausgesprochen, die über diese Frage das Oppositionsbündnis beinahe hätte platzen lassen. Sie bestand auf einem Kandidaten, “der gewinnen kann” – was bei dem wenig charismatischen und zudem der alevitischen Minderheit angehörigen Kiliçdaroğlu kein Selbstläufer ist. Doch auch für ihn gibt es gute Argumente: So ist es wesentlich ihm zu verdanken, dass überhaupt eine so diverse Allianz aus säkularen und islamistischen, mitte-linken bis scharf nationalistischen Kräften den Wandel gemeinsam bewerkstelligen will und auch seit vielen Monaten zusammenhält. Insbesondere die ausgestreckte Hand zu den islamisch geprägten Wählern wäre unter früheren Führern der kemalistischen und streng säkularen CHP nicht denkbar gewesen. Nicht zuletzt ist es ihm gelungen, die stillschweigende Unterstützung der pro-kurdischen HDP zu gewinnen. Obwohl sie nicht mit am „Sechser-Tisch“ sitzen darf, eine rote Linie für die İYİ-Partei und ihre Wähler, tritt sie nicht mit einem eigenen Präsidentschaftskandidaten an, sondern wird voraussichtlich zur Unterstützung Kiliçdaroğlus aufrufen und so zum gemeinsamen Ziel eines Machtwechsels beitragen.

Die Hoffnung der Opposition, diesen Wechsel schon am 14. Mai herbeizuführen, dürfte sich aber zerschlagen haben. Zwei weitere Kandidaten sind zur Wahl registriert: der rechtsnationale Sinan Oğan und Muharrem Ince, der bereits 2018 zur Wahl stand, damals für die CHP, aber gegen Erdoğan deutlich verloren hatte. Ince tritt jetzt mit seiner eigenen Memleket-Partei (Heimatland) an und wird ausreichend vor allem junge Wähler aus dem Oppositionslager abziehen, damit es zu einem zweiten Wahlgang am 28. Mai kommt. Versuche Kiliçdaroğlus, ihn einzubinden, sind – zumindest bisher – gescheitert.

600 neue Volksvertreter

Inzwischen haben die Parteien auch ihre Kandidatenlisten für die Parlamentswahl veröffentlicht. 26 Parteien werden auf dem Wahlzettel stehen. Unsichtbar bleiben jene kleinen Mitbewerber, deren Kandidaten auf den Listen größerer Verbündeter antreten, um die 7-Prozent-Hürde zu überspringen. Im Fall der AKP ist dies etwa die HÜDA-PAR, eine kurdisch-islamistische Kleinstpartei, die der inzwischen zerschlagenen türkischen Hisbollah (nicht zu verwechseln mit der libanesischen Hisbollah) nahestehen soll und im Vorfeld der Wahl mit extrem konservativer Programmatik von sich reden machte. So erhebt sie die Forderung, außereheliche Beziehungen und „Propaganda für Perversion“ (was LGBTI+-Projekte umfassen dürfte) zu Straftatbeständen zu erklären und das Gesetz zum Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt zu revidieren.

Auf der Seite der Nationenallianz haben sich alle vier kleinen Parteien entschieden, auf der Liste der CHP anzutreten, die liberal-konservative DEVA konnte für sich etwa 25 und die islamistische Saadet-Partei 23 Listenplätze verhandeln. Insgesamt enthält die CHP-Liste 78 Kandidatinnen und Kandidaten anderer Parteien.

Erdoğan selbst hat fast sein gesamtes derzeitiges Kabinett auf die Wahlliste gesetzt, was seinen Ministern für den Fall einer Niederlage immerhin Immunität verschaffen würde. Zudem enthält die Liste zahlreiche neue Namen, da nach parteiinternen Regeln der AKP niemand mehr als zwei Legislaturperioden im Parlament sitzen soll.

Die pro-kurdische HDP wird komplett unter dem Dach bzw. auf der Liste der grün-linken Partei (YSP) in die Wahl ziehen, schwebt doch über ihr nach wie vor ein Parteiverbotsverfahren, das möglicherweise noch vor dem 14. Mai zur Entscheidung kommen könnte. Sie ist in der Arbeits- und Freiheitsallianz mit der Türkischen Arbeiterpartei (TIP) verbunden, deren Kandidaten teils ebenfalls für die YSP, teils mit eigener Liste ins Rennen gehen.

Insgesamt fällt die geringe Repräsentanz von Frauen auf den Wahllisten auf – bei der AKP sind es etwa 115 von 600, bei der CHP nur 90 von 600. Zum Vergleich: Im derzeitigen Parlament sitzen 104 weibliche Abgeordnete. Auch die Jugend des Landes dürfte sich kaum repräsentiert fühlen – so hat die AKP nur 25 Personen unter 30 Jahren aufgestellt, die CHP und die İYİ-Partei je 33.

Wahlkampfthemen

Kandidaten und Unterstützer touren nun durchs Land, um die Menschen von sich zu überzeugen, sprechen in vollen Arenen, nehmen öffentlichkeitswirksam an verschiedenen Orten am Fastenbrechen teil. Das bestimmende Thema ist - wenig überraschend - die Wirtschaftslage, geht das Land doch durch eine tiefe Inflationskrise, die das Leben der meisten Menschen im vergangenen Jahr spürbar belastet hat.

Der Präsident hält sich mit Versprechungen nicht zurück. So will er die Inflation von derzeit 50,5 % in den einstelligen Bereich senken, mit der Schaffung von 6 Mio. Arbeitsplätzen in den nächsten fünf Jahren die Arbeitslosigkeit von derzeit zehn auf sieben Prozent senken und den Lebensstandard erhöhen. Zusätzliche Hilfen für Studenten kündigt er ebenso an wie weitere Infrastruktur-Großprojekte oder den Bau von 650.000 Wohnungen für die Erdbebenopfer. „Wir sind hier, um gemeinsam mit unserer Nation die Tür zum Jahrhundert der Türkei zu öffnen!“, rief er seinen Unterstützern jüngst in einer Sportarena in Ankara zu. Dass die Inflationskrise überhaupt erst durch die wiederholten Leitzinssenkungen auf Anweisung Erdoğans entstanden ist, soll darüber offenbar in Vergessenheit geraten. In der Tat wird das „Türkische Wirtschaftsmodell“, das einen Zusammenhang zwischen niedrigen Zinsen und niedriger Inflation herstellt, im Wahlmanifesto gar nicht erwähnt – dies könnte auf ein stillschweigendes Umschwenken nach den Wahlen deuten. Unklar bleibt indes, wie der versprochene Aufschwung finanziert werden soll.

Der Präsident setzt jedoch nicht nur auf Wohlstandsversprechen, sondern polarisiert nach Kräften, um insbesondere den konservativen Wählern eine mögliche CHP-geführte Regierung suspekt zu machen. So attackierte er den Aleviten Kiliçdaroğlu verbal für ein Foto, das ihn mit Schuhen auf einem Gebetsteppich stehend zeigt. Seine politischen Gegner brandmarkt er als „Putschisten“ und „globale Imperialisten“ und rückt die Nationenallianz in die Nähe der Terrororganisation PKK, weil sie die Unterstützung der kurdischen Wählerinnen und Wähler sucht. Geschickt wird so ein jeder, der die AKP-Regierung kritisch sieht, als Feind der Türkei und des türkischen Volkes verunglimpft. Pikant ist derweil, dass einzelne Wahlversprechen Erdoğans offenbar eins zu eins von Kiliçdaroğlu übernommen sind.

Außenpolitische Themen stehen dahinter zurück, jedoch versteht es Erdoğan, sich wirksam als unabhängiger und erfolgreicher Staatsmann zu inszenieren. So weihte er jüngst medienwirksam das größte türkische Kriegsschiff, zugleich weltweit erster „Drohnenträger“, ein und lenkte den Blick auf die stark aufstrebende türkische Verteidigungsindustrie.

Kemal Kiliçdaroğlu wirbt mit dem Slogan „Der Frühling wird wiederkommen“ für einen grundlegenden Wandel und die Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie, in der die ausufernden Befugnisse des Präsidenten wieder weitgehend an die Große Nationalversammlung und das wieder einzuführende Amt des Ministerpräsidenten übergehen. Auch er kündigt wirtschaftliche Maßnahmen zugunsten einzelner Gruppen wie der Arbeiter, Bauern, Ladenbesitzer, der jungen Leute und Rentner, der Frauen und der Erdbebenopfer an. Er verspricht Steuersenkungen für Arbeiter, den Schutz der Türkischen Lira und die Wiederherstellung einer unabhängigen Zentralbank. Doch darüber hinaus wirbt er mit einem anderen Verständnis von Staat und Führung - ohne Korruption und mit einem Präsidenten, der mit einem Leben in Bescheidenheit ein Rollenmodell für die Nation abgibt.

Wenngleich auch bei Kiliçdaroğlu innenpolitische Themen im Vordergrund des Wahlkampfes stehen, hat doch die Nationenallianz auch außenpolitische Fragen adressiert: So solle die Außenpolitik auf dem Grundsatz „Frieden zu Hause, Frieden in der Welt“ aufbauen, das Verhältnis mit den USA repariert und die Frage der Mitgliedschaft in der EU wieder aufgegriffen werden, ohne eine dialogbasierte und konstruktive Beziehung zu Russland aufzugeben. Im Verhältnis zur EU dürfte unter einer Regierung Kiliçdaroğlu zunächst das Flüchtlingsabkommen von 2016 im Vordergrund stehen, das er verspricht neu zu verhandeln.

Wählen vor Trümmern

Dass die Wahlen überhaupt fristgerecht bis zum Sommer stattfinden würden, war nach dem verheerenden Erdbeben im Südosten der Türkei am 6. Februar zunächst nicht abzusehen. Neben Sorgen, der Präsident könnte aus politischen Motiven eine Verschiebung arrangieren, stellte sich die berechtigte Frage, wie sich der Zugang zur Wahlurne für die vielen Betroffenen überhaupt organisieren lässt. Zwei Millionen Menschen leben in Zeltstädten in der Katastrophenregion, viele mehr sind in Istanbul, Ankara und anderen Städte untergekommen. Ein Briefwahlsystem wie in Deutschland gibt es in der Türkei nicht, man muss dort wählen, wo man registriert ist. Nicht zuletzt sind viele der üblicherweise als Wahllokale genutzten Schulen zerstört worden.

Inzwischen scheinen die Wahlen jedoch so vorbereitet zu sein, dass auch die Überlebenden des Erdbebens – so sie sich denn um ihre Ummeldung bemühen – ihr demokratisches Recht ausüben können. In den zerstörten Gebieten werden Container als Wahllokale aufgestellt. Wollen die Menschen in ihrem Heimatbezirk abstimmen, müssen sie am Wahltag dorthin reisen. Haben sie sich in einer anderen Stadt registriert, geht ihre Stimme in die Zählung des dortigen Wahlkreises ein. Das dürfte in einigen besonders betroffenen Gebieten wie etwa Hatay die Zusammensetzung der Stimmen merklich verändern. Wer seine Personaldokumente verloren hat, kann sich auf den Bürgerämtern ein vorläufiges Zertifikat ausstellen lassen, mit dem er sich im Wahllokal ausweisen kann – einer der Fälle, in denen das digitale System „e-devlet“, der „elektronische Staat“, positiv zum Tragen kommt.

Doch nicht alle sind mit der Organisation der Wahlen gleichermaßen zufrieden. So sehen es viele Studierende nicht als Zufall an, dass die seit dem Erdbeben online laufenden Vorlesungen genau zwei Tage vor der Deadline für eine Umregistrierung wieder auf Präsenz umgestellt wurden. Viele sind nun wieder an ihren Universitätsstandorten und nicht wie erwartet bei ihren Familien, und eine Reise an den Heimatort zum Wahltag – vermutlich sogar ein weiteres Mal für die Stichwahl – ist längst nicht für alle erschwinglich. Diese Einschränkung – sei sie nun Absicht oder Zufall – trifft eine Gruppe, der Umfragen weniger konservative Ansichten und Wahlabsichten bescheinigen als der Gesamtbevölkerung. Die Opposition versucht entgegenzuwirken, indem sie kostenlose Tickets für Studierende zur Verfügung stellt, die zum Wählen nach Hause fahren wollen – eine Maßnahme, die sie sogar bereits vor dem Erdbeben angekündigt hatte, um den Anteil der jungen Wähler zu erhöhen.

Steht die Türkei vor der Wende?

Eine Vielzahl türkischer Umfrageinstitute veröffentlicht Befragungen zur Wahl. Diese fallen durchaus unterschiedlich aus, machen in der Gesamtschau aber deutlich: Mit einem knappen Rennen ist zu rechnen. Auch eine Konstellation, in der eine Seite die Präsidentschaft, die andere das Parlament gewinnt, ist denkbar.

Mehrere Dinge schlagen für die Opposition zu Buche: Die Unzufriedenheit über die desaströse Wirtschaftslage ist durchaus auch bei traditionellen AKP-Wählern zu spüren; unter den ca. 6 Mio. jungen Wählerinnen und Wählern gibt es tendenziell weniger Erdoğan-Anhänger als bei den älteren Wählerschichten; vom Verzicht der HDP auf einen eigenen Präsidentschaftskandidaten wird vor allem Kemal Kiliçdaroğlu profitieren; und nicht zuletzt bietet die Breite der Nationenallianz ein Zuhause auch für streng religiöse oder nationalistische Wähler, die sich erstmals nicht mehr entsprechend einer bestimmten Identität entscheiden müssen, sondern zwischen unterschiedlichen Politikangeboten wählen können.

Doch auch die Waagschale des Präsidenten und der AKP ist gut gefüllt: Die Kandidatur von Muharrem Ince und die absehbar notwendige Stichwahl wird die Gewichte zugunsten Erdoğans verschieben, auch wenn Ince zuletzt durch unbeherrschtes Verhalten in einer Diskussion mit Studierenden viel Empörung auf sich gezogen hat; der Wahlkampf verläuft in hohem Maße unfair, weil der Amtsinhaber und seine Unterstützer über 90 Prozent der Medien kontrollieren und zudem auf Amtsbonus und „administrative Ressourcen“, sprich öffentliche Gelder zurückgreifen können; und schließlich kann sich Erdoğan in jeder Wetterlage auf etwa 30 Prozent des Wählerpotenzials fest verlassen, für die er nach 20 Jahren im Amt zum Teil ihrer politischen Identität geworden ist.

Damit die Wahlen am 14. Mai tatsächlich den Willen des Volkes abbilden, wird es entscheidend auf eine flächendeckende Wahlbeobachtung ankommen, für die bereits viele Freiwillige bereitstehen. Sollte der Opposition ein Sieg gelingen, warten gewaltige Aufgaben auf ihre Vertreter: Das Land muss aus der Inflationskrise geführt, die vom Erdbeben zerstörten Gebiete wiederaufgebaut und gefährdete Regionen, allen voran Istanbul, für das nächste Erdbeben gewappnet werden. Der Rechtsstaat muss wieder hergestellt, der Staat wieder funktionstüchtig gemacht werden. In einer Koalition höchst unterschiedlicher politischer Kräfte könnte all dies noch schwerer zu erreichen sein als ein Wahlsieg über Recep Tayyip Erdoğan.