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Türkisches Oppositionsbündnis: geplatzt und wieder repariert

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Die sechs Oppositionsparteien in der Türkei

© picture alliance / abaca | Depo Photos/ABACA

Am 10. März unterzeichnete Präsident Recep Tayyip Erdoğan wie angekündigt ein Dekret, das den Termin für die nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen auf den 14. Mai festlegt. Damit will er nach eigener Aussage eine Kollision des Wahltermins mit universitären Prüfungsterminen, Ferien und Saisonarbeit sowie der jährlichen Pilgerreise der Muslime nach Mekka am 18. Juni vermeiden.

Dass das aus sechs Parteien zusammengeschlossene Oppositionsbündnis mit Optimismus in den gemeinsamen Wahlkampf gehen würde, stand eine Woche zuvor noch in den Sternen. Die Vorsitzende der nationalistischen İYİ-Partei Meral Akşener hatte die sogenannte Nationsallianz um ein Haar platzen lassen und dem „Sechsertisch“ sowie seinen Anhängern im ganzen Land ein Wochenende auf der emotionalen Achterbahn beschert.

Gemeinsamer Kandidat als einzige Chance, Amtsinhaber in der Wahl zu schlagen

Am 6. März hatte das Bündnis den gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten ankündigen wollen. Bereits am Donnerstag zuvor wurde bekannt, dass sich fünf der sechs Parteien auf den CHP-Vorsitzenden Kemal Kiliçdaroğlu geeinigt haben – alle außer der İYİ-Partei. Dass Akşener seine Kandidatur für falsch hält, war bekannt. Doch offenbar rechneten alle damit, dass sie sich am Ende der Mehrheitsmeinung am Sechsertisch beugen würde. Immerhin war das Zusammengehen mit einem gemeinsamen Kandidaten seit langem verabredet und erscheint als die einzige Chance, den Amtsinhaber in der Wahl zu schlagen. Entsprechend war Meral Akşeners Verlautbarung am Folgetag, dass sie Kiliçdaroğlu nicht unterstützen werde, ein politischer Paukenschlag. Der Sechsertisch drohte zu zerbrechen, die Chance auf einen Wahlsieg der Opposition zu schwinden. Zur Begründung führte Akşener an, Kiliçdaroğlu würden in allen Umfragen geringere Chancen vorausgesagt als den populären CHP-Bürgermeistern von Istanbul und Ankara, Ekrem Imamoğlu und Mansur Yavaş. Er wird als weniger charismatisch wahrgenommen und hat noch nie eine nationale Wahl gewonnen. Indem er auf seiner eigenen Kandidatur bestehe, stelle er persönliche Ambitionen über die Interessen des türkischen Volkes, so Akşener. De facto dürften ihre Vorbehalte auch daher rühren, dass Kiliçdaroğlu Alevit ist, was in der Tat einen überschaubaren Teil der Wähler gegen ihn einnehmen dürfte.

Erdoğans Freude war zu früh

Was dann folgte, war eine Risikowette. Die İYİ-Vorsitzende wandte sich an Imamoğlu und Yavaş und forderte diese auf, selbst zu kandidieren und sich damit gegen ihren eigenen Parteichef zu stellen. Das Land starrte wie gebannt auf die Bildschirme und Twitter-Timelines, ob einer der beiden der Versuchung erliegen würde. Doch die Wette ging nicht auf: Beide Bürgermeister drückten ihre Hoffnung aus, dass die Nationsallianz intakt bleiben würde, und versicherten Kiliçdaroğlu ihrer Unterstützung.

Der Rest des Wochenendes verging in einem hektischen Durcheinander von Telefonaten, Verlautbarungen, Treffen in verschiedensten Konstellationen, Vermutungen über Akşeners Absichten und reger Shuttle-Diplomatie. İYİ-Mitglieder posteten Screenshots ihrer Parteiaustritte auf den Sozialen Medien, der öffentliche Druck zum Reparieren des Bündnisses war enorm. Der „lachende Dritte“ war Präsident Erdoğan, der kommentierte: „Wir haben schon vor Monaten gesehen, dass dies geschehen würde. Was auch immer sie tun, wir setzen unseren Fahrplan fort.“ Seine Freude war indes verfrüht – denn am 6. März kehrte Meral Akşener an den Sechsertisch zurück und akzeptierte schließlich die Kandidatur Kiliçdaroğlus. Im Gegenzug wurde vereinbart, nach einem Wahlsieg nicht nur den Parteiführern der anderen fünf Koalitionäre, sondern auch den Bürgermeistern Imamoğlu und Yavaş den Status von Vizepräsidenten einzuräumen.

Neueste Umfragen stützen vorsichtigen Optimismus

Die Meinungen, ob das turbulente Intermezzo dem Oppositionsbündnis eher geschadet oder genützt hat, gehen auseinander. Geschwächt dürfte Akşener selbst sein, und dies könnte dem Kandidaten freiere Hand geben, informell auch die pro-kurdische HDP ins Boot zu holen. Deren Stimmen könnten am Ende wahlentscheidend sein, eine formale Zusammenarbeit ist aber mit den nationalistischen İYİ-Wählern nicht zu machen. Derzeit sieht es so aus, als werde die HDP auf die Benennung eines eigenen Kandidaten verzichten und Kiliçdaroğlu unterstützen. Die Stimmung in Oppositionskreisen ist entsprechend zuversichtlich.

Neueste, nach dem Erdbeben durchgeführte Umfragen stützen diesen vorsichtigen Optimismus: So sehen die Umfragen von Aksoy, PIAR, ALF und ORC alle den amtierenden Präsidenten im Bereich von 42,9 bis 44,9 Prozent, den Herausforderer Kiliçdaroğlu im Bereich von 55,1 bis 57,1 Prozent. Doch Umfragen in der Türkei sind mit einer gewissen Vorsicht zu genießen, und es gibt noch viele unbekannte Faktoren. Unklar ist etwa bisher, ob sich weitere Kandidaten zur Wahl stellen, die Oppositionsstimmen binden und für eine zweite Wahlrunde am 28. Mai sorgen würden. Der Wahlkampf hat begonnen und damit das Ringen um die Zukunft der Türkei. Die kommenden neun Wochen dürften für weitere Überraschungen sorgen. 

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