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Freiheit +90
Nare Yeşilyurt über Zugehörigkeit, Unternehmertum und Verantwortung

Die Diplom-Pädagogin Nare Yesilyurt, aufgenommen am 09.06.2013 in Köln.

Nare Yesilyurt, aufgenommen am 09.06.2013 in Köln. 

© picture alliance / dpa | Horst Galuschka

Im Rahmen unseres Projekts „Freiheit +90“, das vom FNF Büro in Istanbul ins Leben gerufen wurde, führen wir Interviews mit in Deutschland lebenden Menschen mit türkischen Wurzeln. Ziel ist es, ihre persönlichen und inspirierenden Erfahrungen sowie ihre Perspektiven zu den Themen Identität, Zugehörigkeit, Migration und Liberalismus kennenzulernen und mit Ihnen als Leserinnen und Lesern zu teilen. Mit dieser zweiwöchentlich erscheinenden Interview-Reihe möchten wir einen tieferen Einblick in die multikulturelle Gesellschaft Deutschlands und individuelle Lebensgeschichten ermöglichen. Diese Woche erzählt uns die türkeistämmige Gesundheitsfachkraft und Unternehmerin Nare Yeşilyurt von ihrem Werdegang, ihren Wahrnehmungen und Erfahrungen.

Könnten Sie etwas über Ihre berufliche Reise in Deutschland erzählen?

Zu Beginn meiner Berufslaufbahn, in den Jahren 1984-1985, arbeitete ich als Stationshilfe in einem Krankenhaus. 1986 begann ich meine Ausbildung zur Krankenschwester. Nachdem ich meine Prüfung bestanden hatte, arbeitete ich etwa acht Jahre lang als Krankenschwester auf der Psychiatrie-Station und beschäftigte mich hauptsächlich mit der psychosozialen Betreuung von Suchtpatienten. Während dieser Zeit bekam ich regelmäßig Unterstützung von Mentoren.

1993 begann ich mein pädagogisches Studium an der Technischen Universität Berlin. Dies war eine ungewöhnliche Situation, da ich als "Türkisches Gastarbeiterkind", geboren am 10.12.1967, aufgrund der Bildungspolitik der 1970er und frühen 1980er Jahre keine Chance hatte, das Abitur zu erlangen. Nach der Grundschule holte ich meinen Mittelschulabschluss auf dem zweiten Bildungsweg nach und erlangte das Recht zur Hochschulzulassung. In meiner Abschlussarbeit behandelte ich das Thema „Konflikte zwischen dem Betäubungsmittelgesetz und dem Ausländergesetz bei ausländischen Jugendlichen“.

Ab 1998 begann ich, das Konzept der kultursensiblen Pflege zu entwickeln. Während ich an meiner Abschlussarbeit arbeitete, fiel mir auf, dass Migranten, die mittlerweile ein Alter erreicht hatten, in dem sie Pflege benötigen, nicht ausreichend in das Gesundheitssystem integriert waren. Daher war es für mich immer ein wichtiges Ziel, nicht nur kultursensible Pflege zu fördern, sondern auch zur Integration dieser Menschen in das deutsche Gesundheitssystem beizutragen.

Am 1. Mai 1999 gründete ich – trotz Widerstandes der Krankenversicherungen und Banken – die Firma Deta-Med, die den ersten kultursensiblen Hauspflege-Dienst in Berlin-Neukölln anbot. Zur gleichen Zeit absolvierte ich die Ausbildung zur verantwortlichen Pflegefachkraft (PDL). Im Jahr 2000 erhielt ich den Entrepreneurship Award für den kultursensiblen Hauspflege-Dienst von Deta-Med. Später gründete ich weitere Deta-Med-Betriebe; heute ist das Unternehmen mit mehreren Einzelunternehmen und Partnerschaften (GbR) tätig. Außerdem gehört zu der Firma ein kultursensibles Tagespflegezentrum, Lebensräume für Intensiv- und Demenzkranke sowie ein Hospiz in Berlin.

2008 wurde ich für meine Arbeiten zur Integration von Migrantinnen in den Arbeitsmarkt mit dem Integrationspreis ausgezeichnet. 2010 und 2011 erhielt ich den Titel „Unternehmerin des Jahres“ und 2019 den „Diversity Award“.

Neben meiner unternehmerischen Tätigkeit habe ich mich ständig weiterentwickelt: Ich arbeite als Mentorin, bin Spezialistin für Intensivpflege und verfüge über zusätzliche Qualifikationen in der gerontopsychiatrischen und palliativen Pflege.

Zudem berate ich in verschiedenen politischen Komitees zu Pflege- und Kulturthemen und bin als Expertin auf Fachkonferenzen tätig. Außerdem veröffentliche ich Artikel zu relevanten Themen in Fachzeitschriften.

Was sind die größten Herausforderungen oder Chancen, denen türkisch-deutsche Unternehmer und Unternehmen gegenüberstehen? Welche politischen Maßnahmen würden zur Förderung des Unternehmertums beitragen?

Türkisch-deutsche Unternehmer, insbesondere Frauen, Mütter und Menschen mit Migrationshintergrund, sehen sich zusätzlichen Herausforderungen wie Bürokratie, Zugang zu Finanzmitteln, kulturellen Unterschieden und Geschlechterungleichheiten ausgesetzt. Auch der Ausschluss von Förderprogrammen stellt eine große Hürde dar.

Darüber hinaus führen politische Parteien oft migrationsfeindliche Programme durch, um mehr Wähler zu gewinnen, und stellen die Integrationsförderung in den Hintergrund. Es ist schwierig, eine politische Partei zu finden, die Migration und Integration offen unterstützt. Daher ist es wichtig, das Unternehmertum zu fördern, indem Bürokratie abgebaut, finanzielle Unterstützungsmaßnahmen gerecht verteilt, spezielle Programme zur Unterstützung von Unternehmen von Frauen und Migrantinnen entwickelt werden und kulturelle Vielfalt gefördert wird.

Welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach türkisch-deutsche Staatsbürger bei der Gestaltung der politischen Landschaft in Deutschland? Wie können politische Bewegungen/Parteien besser mit dieser Gemeinschaft in Kontakt treten?

Trotz der Integrations- und Assimilationspolitik sind inzwischen in fast allen großen Parteien Menschen mit Migrationshintergrund vertreten, auch als Abgeordnete. Es gibt jedoch nach wie vor eine erhebliche Lücke in der Repräsentation: Nur 11 % der Abgeordneten im Bundestag haben einen Migrationshintergrund, während der Anteil der Migranten an der Gesamtbevölkerung bei 27 % liegt (Statistisches Bundesamt 2023).

Um eine stärkere Verbindung zur türkischstämmigen Gemeinschaft herzustellen, sollten politische Parteien folgende Schritte unternehmen:

Gezielte Kommunikation und Beteiligung

  • Türkischstämmige Bürger aktiv in politische Entscheidungsprozesse einbeziehen.
  • Dialogforen und Bürgerversammlungen in Gemeinschaften mit Migrationshintergrund organisieren.

Stärkung der Repräsentation

  • Kandidaten mit Migrationshintergrund auf wählbare Plätze setzen.
  • Migranten in politische Jugendorganisationen und zivilgesellschaftliche Organisationen integrieren.

Wichtige Themen priorisieren

  • Soziale Politik, Bildungschancen und Antidiskriminierung zu zentralen Themen für Gemeinschaften mit Migrationshintergrund machen.
  • Maßnahmen gegen institutionellen Rassismus und Benachteiligung verstärken.

Doppelte Staatsbürgerschaft und Wahlrecht

  • Die Reform zur Erleichterung der doppelten Staatsbürgerschaft nutzen, um die politische Teilnahme von Migranten zu erhöhen.
  • Langfristig Diskussionen über das Wahlrecht für Nicht-EU-Bürger bei Kommunalwahlen führen.

Wie sehen Sie den Liberalismus in Deutschland? Wie können Türkei-stämmige Menschen für liberale Ideen gewonnen werden?

Die FDP ist eine unternehmerfreundliche Partei und hat besonders gute Programme und Steuerpolitiken für Unternehmen. Jahrelang habe ich der FDP meine Stimme gegeben, weil sie keine Politik auf Kosten von Minderheitengruppen macht. Allerdings hat die FDP einen großen Mangel darin, sehr wenige türkischstämmige Kandidaten auf wählbare Plätze zu setzen und ist innerhalb der türkischen Gemeinschaft nicht ausreichend sichtbar.

Die FDP sollte sich stärker auf die Bedürfnisse der türkischstämmigen Bevölkerung konzentrieren und in dieser Gemeinschaft sichtbarer werden. Hier einige Schritte, die sie unternehmen könnte:

  1. Mehr türkischstämmige Kandidaten aufstellen
     
    • Türkischstämmige Politiker auf wählbare Plätze setzen.
    • Türkischstämmige Mitglieder aktiv unterstützen und in die Partei integrieren.

 

  1. Direkte Kommunikation und Präsenz in der Gemeinschaft
    • Regelmäßige Dialogveranstaltungen in von Türkischstämmigen bewohnten Stadtteilen (z. B. Berlin-Neukölln, Köln, Hamburg) organisieren.
    • In den türkischen Medien aktiv werden.

 

  1. Thematische Prioritäten setzen
     
    • Unternehmertum und Selbstständigkeit ins Zentrum stellen.
    • Bildungsangebote für Migrantenkinder verbessern.
    • Bürokratie für kleine und mittlere Unternehmen abbauen.

 

  1. Digitale und soziale Medien effektiv nutzen
    • Social-Media-Kampagnen in Türkisch oder zweisprachig (Deutsch-Türkisch) gestalten.
    • Bekannte türkischstämmige Influencer und Unternehmer in politische Diskussionen einbinden.

Zusammenfassend: Die wirtschaftlichen Programme der FDP könnten für viele türkischstämmige Wähler attraktiv sein, aber die Sichtbarkeit und Repräsentation in dieser Gruppe muss deutlich erhöht werden.

Hätten Sie eine Initiative oder Idee, um die Beziehungen zwischen türkisch-deutschen Staatsbürgern und der deutschen Gesellschaft zu stärken?

Seit 1971 lebe ich in Berlin, habe mich integriert, aber nicht assimiliert. Obwohl ich hier in Berlin aufgewachsen bin, finde ich es erschreckend, dass ich in einer Parallelgesellschaft lebe. Der Grund für mein Leben in einer Parallelgesellschaft liegt in der Erfahrung, dass deutsche Schulfreunde mich als kleines Grundschulkind nicht in ihre Häuser einluden oder mit mir spielten, weil ich ein "Fremder" war.

Arbeiter-Migranten wurden bei der Verteilung von Wohnraum diskriminiert und durften nur in den von den Behörden bestimmten Gebieten leben. Diese Gebiete waren oft in sehr schlechtem Zustand, hatten hohe Kriegsschäden, Außen-WCs und baufällige Häuser. In diesen Gebieten gab es fast keine Deutschen, sie lebten in besseren und weniger beschädigten Gegenden. Die Politik der Gastarbeiter und die Existenz von „Fremdklassen“ in den Schulen führten zur Entstehung paralleler Gesellschaften. Als Migrant war es nicht leicht, ohne Vorurteile in deutschen Familien akzeptiert zu werden.

Diese persönlichen Erfahrungen sprechen ein bedeutendes Problem der tief verwurzelten Diskriminierung in der Gesellschaft an. Als Lösung oder Initiative könnte es sinnvoll sein, Projekte zu starten, die das Verständnis zwischen verschiedenen sozialen Gruppen fördern. Beispielsweise könnten interkulturelle Austauschprogramme in Schulen und Stadtteilen angeregt werden, um Menschen aus verschiedenen sozialen und kulturellen Hintergründen gleiche Möglichkeiten der Interaktion zu bieten. Dies könnte dazu beitragen, jahrelange Diskriminierung und Trennung zu überwinden und zu einer inklusiveren Gesellschaft beizutragen.

Wir werden unsere Beiträge auf Freiheit+90 regelmäßig mit neuen Geschichten und Interviews fortsetzen! Unser nächstes Interview werden wir sowohl über unsere Social-Media-Kanäle als auch über unsere Website ankündigen!