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Freiheit +90
Integration, Identität, Innovation: Elmas Topçu über Chancen und Hürden in Deutschland

Elmas Topçu
© DW

Im Rahmen unseres Projekts „Freiheit +90“, das vom FNF Büro in Istanbul ins Leben gerufen wurde, führen wir Interviews mit in Deutschland lebenden Menschen mit türkischen Wurzeln. Ziel ist es, ihre persönlichen und inspirierenden Erfahrungen sowie ihre Perspektiven zu den Themen Identität, Zugehörigkeit, Migration und Liberalismus kennenzulernen und mit Ihnen als Leserinnen und Lesern zu teilen. Mit dieser zweiwöchentlich erscheinenden Interview-Reihe möchten wir einen tieferen Einblick in die multikulturelle Gesellschaft Deutschlands und individuelle Lebensgeschichten ermöglichen. Diese Woche erzählt uns die türkeistämmige Journalistin Elmas Topçu von ihrem Werdegang, ihren Wahrnehmungen und Erfahrungen.

Elmas Topçu ist Journalistin, Moderatorin und Expertin für Migrationsthemen. Im Interview spricht sie über ihren Werdegang in Deutschland, die Herausforderungen und Chancen der türkischen Diaspora sowie darüber, wie Integration und gesellschaftliches Engagement unser Zusammenleben prägen

Können Sie uns bitte Ihren beruflichen Werdegang in Deutschland schildern und erläutern, wie Ihr Beruf Ihr Leben hier beeinflusst?

Nach meinem Studium im Ingenieurwesen an der Technischen Universität Yildiz in der Türkei kam ich Mitte der 90er Jahre nach Deutschland und lernte Deutsch. Nach dem erfolgreichen Abschluss des Großen Sprachdiploms begann ich als studentische Hilfskraft beim WDR. Aufgrund meiner redaktionellen Fähigkeiten erhielt ich 1999 die Möglichkeit, als Autorin tätig zu werden. Meine Arbeit überzeugte die Redaktion, sodass ich schnell eingearbeitet wurde und seitdem für verschiedene öffentlich-rechtliche Sender als Reporterin, Autorin, Redakteurin und Moderatorin arbeite. Die tägliche Auseinandersetzung mit politischen, sozialen und kulturellen Themen prägt mein Leben und meinen Alltag stark.

Welche Rolle spielen türkeistämmige Bürgerinnen und Bürger bei der Gestaltung der politischen Landschaft in Deutschland?

Wie in jeder Migrantengruppe engagieren sich einige türkeistämmige Bürger aktiv in der deutschen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und im Ehrenamt. Sie gestalten das politische Geschehen im Land mit. Der größte Teil der türkeistämmigen Gemeinschaft beteiligt sich jedoch kaum an politischen Prozessen.

Wie können politische Bewegungen oder Parteien besser mit dieser Gemeinschaft zusammenarbeiten?

Um besser mit dieser Gemeinschaft zusammenzuarbeiten, ist es wichtig, die Vielfalt und die Leistungen der Türkeistämmigen seit den 1960er Jahren anzuerkennen und wertzuschätzen. Diese Gemeinschaft ist heterogen und umfasst Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, ethnischer Zugehörigkeit, Bildung, Religion und politischen Ansichten. Daher ist eine pauschale Ansprache kaum möglich. Stattdessen sollten spezifische Angebote und Veranstaltungen für verschiedene Gruppen entwickelt werden, die auf ihre Bedürfnisse und Interessen zugeschnitten sind. Politische Bewegungen und Parteien sollten aktiv auf die türkeistämmige Gemeinschaft zugehen, beispielsweise durch Dialogveranstaltungen, Workshops oder die Einbindung in Entscheidungsprozesse. Zentrale Themen für diese Gruppe sind Bildung, Integration, Antidiskriminierung und die Pflege der kulturellen Identität. Die Zusammenarbeit in diesen Bereichen kann Vertrauen aufbauen. Gleichzeitig gibt es eine große, schweigende Mehrheit innerhalb der türkeistämmigen Gemeinschaft, die nicht in Vereinen oder religiösen/ethnischen Strukturen organisiert ist. Daher sind neue Kommunikationswege erforderlich, um diese Mehrheit zu erreichen. Sport-, Senioren- und Nachbarschaftsprojekte können hier einen wichtigen Beitrag leisten. Es ist wichtig, den Kontakt nicht nur vor Wahlen zu suchen, weil dies oft Misstrauen hervorruft.

Was sind die größten Herausforderungen und Chancen für die türkische Diaspora in Bezug auf Integration?

Die türkische Diaspora in Deutschland steht vor komplexen Herausforderungen, die von sprachlichen Barrieren und Diskriminierung bis hin zu Fragen der kulturellen Identität reichen. Trotz der langen Aufenthaltszeit vieler Türkeistämmiger in Deutschland ist die deutsche Sprache für einige immer noch eine Herausforderung. Im Bildungswesen sind türkischstämmige Schüler trotz Verbesserungen weiterhin unterrepräsentiert, insbesondere in höheren Bildungsgängen. Auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt sind viele Menschen mit Diskriminierung und Vorurteilen konfrontiert, was ihre Karrierechancen und ihren Verdienst beeinträchtigt. Ihre politische Beteiligung ist vergleichsweise gering, was auf mangelndes Vertrauen in politischen Institutionen zurückzuführen sein könnte. Auch Ankara trägt mit der Deutschland-kritischen Politik dazu bei. In den letzten Jahren ist jedoch eine wachsende Bereitschaft zur politischen Beteiligung zu beobachten, was die Möglichkeit bietet, Interessen und Anliegen dieser Gruppe stärker in die politische Agenda einzubringen. Allerdings ist es wichtig, die spezifischen Bedürfnisse und Anliegen verschiedener Gruppen innerhalb der türkischen Diaspora zu berücksichtigen, da sie keine homogene Gruppe darstellen.

Wenn Sie eine Initiative vorschlagen könnten, um die Beziehungen zwischen türkeistämmigen Bürgerinnen und Bürgern und der deutschen Gesellschaft zu stärken, welche wäre das und warum?

Ein vielversprechender Ansatz zur Stärkung der Beziehungen zwischen türkeistämmigen Bürgern und der deutschen Gesellschaft ist die Förderung interkultureller Begegnungsprojekte auf lokaler Ebene. Durch direkte Begegnungen und Austausch können Vorurteile und Stereotypen abgebaut werden. Menschen lernen sich individuell kennen und entdecken Gemeinsamkeiten, die über kulturelle Unterschiede hinweg verbinden. Solche Projekte bieten die Möglichkeit, mehr über die jeweils andere Kultur, Traditionen, Religion und Lebensweisen zu erfahren und ermöglichen Austausch, Mitwirkung und Engagement. Erfolgreiche Beispiele sind Kochkurse, Sprach- oder Müttercafés oder Sportveranstaltungen, die Menschen mit und ohne türkischen Migrationshintergrund zusammenbringen. Initiativen in Stadtteilen mit hohem Anteil türkischstämmiger Bevölkerung, die den Austausch und die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen fördern, sind ebenfalls vielversprechend. Programme, die vor allem junge Menschen mit türkischem Migrationshintergrund mit Mentoren aus der deutschen Gesellschaft zusammenbringen, um sie in ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung zu unterstützen, sind ebenfalls wertvoll.

Was sind die größten wirtschaftlichen Herausforderungen für die türkisch-deutsche Diaspora?

Die türkisch-deutsche Diaspora steht vor einer Reihe von wirtschaftlichen Herausforderungen, die ihre Integration und ihren Wohlstand beeinträchtigen können. Trotz des Antidiskriminierungsgesetzes sehen sich viele türkischstämmige Menschen auf dem Arbeitsmarkt immer noch mit Diskriminierung und Vorurteilen konfrontiert. Dies äußert sich in Form von geringeren Einstellungs- und Beförderungschancen sowie niedrigeren Löhnen. Türkischstämmige Arbeitnehmer verdienen im Durchschnitt weniger als ihre deutschen Kollegen. Dies ist auf eine Vielzahl von Faktoren zurückzuführen, darunter Benachteiligung bei der Einstellung, oft geringere Bildungschancen und die Konzentration auf bestimmte Branchen mit niedrigeren Löhnen. Vielleicht sind aus diesem Grund Türkeistämmige  überproportional unternehmerisch tätig und gründen eigene Unternehmen, haben aber auch da Schwierigkeiten, vor allem das deutsche Steuersystem und die Bürokratie zu verstehen. Auch die Anerkennung ihrer Abschlüsse stellt häufig ein großes Problem dar. Die Anerkennung der Herausforderungen und die Ergreifung entsprechender Maßnahmen werden nicht nur den Betroffenen selbst, sondern der gesamten deutschen Gesellschaft zugutekommen.

Wie tragen türkeistämmige Unternehmerinnen, Unternehmer und Unternehmen zur deutschen Wirtschaft bei?

Türkeistämmige Unternehmer sind in einer breiten Palette von Branchen tätig, von traditionellen Handwerksbetrieben über den Einzelhandel bis hin zu Hightech-Unternehmen und innovativen Start-ups. Sie tragen zur Diversifizierung der deutschen Wirtschaft bei und fördern den Wettbewerb. Sie schaffen Arbeits- und Ausbildungsplätze für Menschen mit und ohne Migrationshintergrund und bieten somit Zukunftsperspektiven und tragen zur Senkung der Arbeitslosigkeit bei. Sie haben eine Brückenfunktion im Handel zwischen Deutschland und der Türkei und bereichern das Konsumangebot in Deutschland durch ihre vielfältigen Produkte und Dienstleistungen. Sie zahlen Steuern und Sozialversicherungsbeiträge, die zur Finanzierung des deutschen Sozialstaats beitragen.

Welche politischen Maßnahmen könnten Ihrer Meinung nach das Unternehmertum in dieser Gemeinschaft fördern?

Um das Unternehmertum in dieser Gemeinschaft zu fördern, sind meiner Meinung nach folgende Maßnahmen denkbar: Spezielle Mikrokreditprogramme und Förderprogramme für türkischstämmige Unternehmer, die den Zugang zu Kapital erleichtern; Schaffung von Netzwerken und Plattformen, die diese Gruppe mit potenziellen Investoren und Geschäftspartnern zusammenbringen; Digitalisierung von Verwaltungsleistungen, um den bürokratischen Aufwand zu reduzieren; Kostenlose oder kostengünstige Beratungsangebote für Türkei-stämmige Unternehmer; Kostenlose oder geförderte Sprachkurse zur Verbesserung der Deutschkenntnisse; Gründungsseminare und Workshops für sie, aber auch Mentoring-Programme, bei denen erfahrene Unternehmer als Mentoren für Existenzgründer fungieren können; Regelmäßige Erhebung von Daten und Statistiken über das Unternehmertum, um die Wirksamkeit der Maßnahmen zu evaluieren; Forschungsprojekte, die die spezifischen Herausforderungen und Chancen türkischstämmiger Unternehmer untersuchen. DIHK-Projekte auf lokaler Ebene waren immer erfolgreich.

Welches Verständnis von Wirtschaft bzw. Wirtschaftsweise haben Sie? Was verbinden Sie mit nachhaltiger und innovativer Wirtschaft?

Eine nachhaltige und innovative Wirtschaft sollte darauf abzielen, langfristigen Wohlstand zu schaffen, ohne die natürlichen Ressourcen zu erschöpfen und die Umwelt zu schädigen. So ein System verbindet wirtschaftliches Wachstum mit sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Verantwortung. Nachhaltigkeit bedeutet, dass wir die Bedürfnisse der heutigen Generation befriedigen, ohne die Fähigkeit zukünftiger Generationen zu gefährden, wenn es so weit ist, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Wiir müssen die Ressourcen effizient nutzen, Abfälle reduzieren und erneuerbare Energien fördern. Innovation ist der Schlüssel, daher können neue Technologien, Produkte und Dienstleistungen uns helfen, unsere Umweltbelastung zu reduzieren und gleichzeitig wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Außerdem trägt eine nachhaltige Wirtschaft zur sozialen Gerechtigkeit bei, indem sie allen Menschen die Möglichkeit gibt, ein gutes Leben zu führen. Es gibt natürlich Menschen, Unternehmen sowie einige Parteien und politische Vereinigungen, die gegen Veränderungen sind. Oftmals werden kurzfristige Gewinne über langfristige Nachhaltigkeitsziele gesetzt. Um in dieser Hinsicht überzeugen zu können, sollte die Politik die Rahmenbedingungen schaffen, die nachhaltige Innovationen fördern und belohnen.

Welches Verständnis von Liberalismus haben Sie?

Ein guter Liberalismus ist im Grunde ein anspruchsvolles Ideal, das in der Realität wahrscheinlich nie erreicht wird. Jedoch kann er ein erstrebenswertes Ziel sein, das uns hilft, eine freie, gerechte und solidarische Gesellschaft zu schaffen.

 

Wir werden unsere Beiträge auf Freiheit+90 regelmäßig mit neuen Geschichten und Interviews fortsetzen! Unser nächstes Interview werden wir sowohl über unsere Social-Media-Kanäle als auch über unsere Website ankündigen