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Freiheit +90
Integration, Engagement, Zukunft: Batuhan Temiz über die Rolle der türkischen Community in Deutschland

Batuhan Temiz

Batuhan Temiz.

Im Rahmen unseres Projekts „Freiheit +90“, das vom FNF Büro in Istanbul ins Leben gerufen wurde, führen wir Interviews mit in Deutschland lebenden Menschen mit türkischen Wurzeln. Ziel ist es, ihre persönlichen und inspirierenden Erfahrungen sowie ihre Perspektiven zu den Themen Identität, Zugehörigkeit, Migration und Liberalismus kennenzulernen und mit Ihnen als Leserinnen und Lesern zu teilen. Mit dieser zweiwöchentlich erscheinenden Interview-Reihe möchten wir einen tieferen Einblick in die multikulturelle Gesellschaft Deutschlands und individuelle Lebensgeschichten ermöglichen. Diese Woche erzählt uns der türkeistämmige Bundeswehrarzt Batuhan Temiz von seinem Werdegang, seinen Wahrnehmungen und Erfahrungen.

Die Integration und politische Teilhabe türkeistämmiger Bürgerinnen und Bürger bleibt in Deutschland eine große Herausforderung – trotz ihres wachsenden Beitrags zur Gesellschaft und Wirtschaft. Wie kann die Politik diese Community besser erreichen und fördern? Im Interview mit der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit berichtet Batuhan Temiz von seinen Erfahrungen und zeigt, wie Brücken zwischen den Kulturen gebaut werden können.

FNF: Können Sie uns bitte Ihren beruflichen Werdegang in Deutschland schildern und erläutern, wie Ihr Beruf Ihr Leben hier beeinflusst?

Batuhan Temiz: Nach meinem Abitur in Berlin habe ich eine Tätigkeit als Personalvermittler aufgenommen und anschließend eine Ausbildung zum medizinisch-technischen Radiologie-Assistenten begonnen. Diese Ausbildung habe ich nach einer Zusage bei der Bundeswehr als Sanitätsoffizieranwärter abgebrochen und begann, Humanmedizin an der Universität Leipzig zu studieren. Derzeit arbeite ich als Arzt und Offizier in der Abteilung Radiologie im Bundeswehrkrankenhaus Berlin. Parallel bin ich momentan in Teilzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter für einen Abgeordneten im Deutschen Bundestag tätig. Des Weiteren war ich drei Jahre lang Vorsitzender der Jungen Liberalen in Lichtenberg/Marzahn-Hellersdorf und bin aktuell neu gewählter Bezirksvorsitzender der FDP in Lichtenberg. Diese verschiedenen Rollen im Laufe meines Lebens haben mich stets in den Dienst der Allgemeinheit gestellt und es bereitet mir heute eine große Freude, Menschen zu helfen.

Welche Rolle spielen türkeistämmige Bürgerinnen und Bürger bei der Gestaltung der politischen Landschaft in Deutschland?

Derzeit leider keine große Rolle. Mit Bedauern muss ich feststellen, dass im Verhältnis zur Bevölkerung nach wie vor zu wenig Deutschtürken den Weg in die Politik finden.  Türkischstämmige Bürger müssen aktiv den Weg in die Politik suchen, um ihre/unsere selbstbestimmt zu vertreten.

Wie können politische Bewegungen oder Parteien besser mit dieser Gemeinschaft zusammenarbeiten?

Mentoring-Programme, Parteiprogramme in türkischer Sprache, Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen. Die Parteien müssen aktiv auf die türkische Community zugehen und sie gezielt ansprechen.

Was sind die größten Herausforderungen und Chancen für die türkische Diaspora in Bezug auf Integration?

Die türkische Diaspora teilt eine gemeinsame Geschichte und Kultur mit Europa.  Unterschiede zeigen sich oft in der Mentalität und vor allem in der Religion. Hier ist es wichtig, ein gegenseitiges Verständnis in der Gesellschaft aufzubauen und die Herausforderungen als Chancen zu begreifen. Vielfalt stärkt die deutsche Gesellschaft.

Wenn Sie eine Initiative vorschlagen könnten, um die Beziehungen zwischen türkeistämmigen Bürgerinnen und Bürgern und der deutschen Gesellschaft zu stärken, welche wäre das und warum?

Ein gesellschaftlich vorangetriebener „Tag der Deutsch-Türkischen Freundschaft“ in Regionen mit hohem türkischstämmigem Bevölkerungsanteil könnte helfen, Vorurteile abzubauen und Brücken aufzubauen. Insbesondere die vielen türkischen Kulturvereine sollten hier mit eingebunden werden, um Informations- und Verpflegungsstände an zentralen Orten aufzustellen. 

Was sind die größten wirtschaftlichen Herausforderungen für die türkisch-deutsche Diaspora?

Niedrige Bildungsabschlüsse bzw. fehlende Qualifizierungen, Sprachbarrieren und mangelnde berufliche Perspektiven behindern viele in ihrem wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg. Dort müssten unsere türkischen Mitbürger mehr in ihre eigene Bildung investieren und auch Alternativen für ihren Werdegang finden. Insbesondere die Bundeswehr ist hier als ein chancengerechter Arbeitgeber zu nennen.

Wie tragen türkeistämmige Unternehmerinnen, Unternehmer und Unternehmen zur deutschen Wirtschaft bei?

Türkische Unternehmer tragen maßgeblich auf allen Ebenen in diesem Land zur Vermehrung unseres Wohlstandes bei. Das Unternehmertum ist in dieser Bevölkerungsgruppe tief verankert – sichtbar nicht nur in den zahllosen kleinen Gastronomie-, Einzelhandels- und Transportbetrieben, sondern mittlerweile auch in vielen mittelständischen und sogar Großunternehmen. Insbesondere die Firma Biontech[1] [AT2]   hat während der Corona-Krise maßgeblich zur Bewältigung der Pandemie beigetragen.

Welche politischen Maßnahmen könnten Ihrer Meinung nach das Unternehmertum in  dieser Gemeinschaft fördern?

Bürokratische Hürden müssen abgebaut werden. Die Gründung eines Unternehmens sollte so einfach sein wie der Abschluss eines Handyvertrags. Wir müssen die Deregulation vorantreiben und den Bürgern mehr Vertrauen entgegenbringen.

Wie nehmen Sie den Liberalismus in Deutschland wahr? Und wie könnten Liberale Menschen mit türkischem Hintergrund besser erreichen?

Für uns als FDP ist es nicht wichtig, wo man herkommt, sondern wo man hinwill. Jeder Mensch, der mit anpacken will, ist in Deutschland willkommen. Die vielen tüchtigen, türkischen Unternehmer und Arbeitnehmer teilen zentrale FDP-Werte wie Toleranz, Leistung und Eigenverantwortung. Die FDP muss die Sorgen und Nöte der Deutschtürken besser verstehen und adressieren. Wer beispielsweise eine Moschee zum Freitagsgebet besucht, wird schnell feststellen, dass viele Gläubige aufgrund mangelnder Kapazitäten im Freien beten müssen - oft bei Regen und Schnee. 

Trotz politischer Differenzen muss die FDP auch versuchen, eine Brücke in die Türkei zu bauen. Denn durch die familiären Verwurzelungen in der Türkei reisen viele Deutschtürken jährlich zu ihren Verwandten in ihre zweite Heimat und festigen so die gesellschaftlichen Bindungen zwischen den Ländern. Diese Bindungen müssen als Chance verstanden werden. Zudem sollte man die Versuche der Terrororganisation PKK, zwischen den türkischen und kurdischen Communities in Deutschland zu spalten, nicht nur normativ anerkennen, sondern auch real unterbinden. Dies würde das Bild Deutschlands in der türkischen Community nachhaltig verbessern, nachdem das Problem lange ignoriert wurde.

Gleichzeitig sollte die FDP erkennen, dass die türkische Community nicht homogen ist. Neben den ethnischen Türken gibt es Kurden, Zaza, Tscherkessen, Bosniaken und viele weitere Gruppen. Jede dieser Gruppen ist in sich vielfältig – daher ist es umso wichtiger, eine gemeinsame Grundlage liberaler Werte zu schaffen, die auf Toleranz, Akzeptanz und Gleichberechtigung basiert. Mit diesem Leitbild muss die FDP auf die verschiedenen Gruppen gleichermaßen einwirken, Extremismus differenziert betrachten und nicht pauschalisieren. Das brüderliche Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei kann auf diese Weise gestärkt werden.

In den letzten Jahren haben sich Deutsche und Türken immer mehr aufeinander zubewegt. Heute sind wir Arbeitskollegen, Nachbarn, Freunde und Ehepartner. Das deutsch-türkische Band wird mit jedem Tag robuster. Es wird Zeit, diesen Menschen eine politische Heimat zu geben.

 

Wir werden unsere Beiträge auf Freiheit+90 regelmäßig mit neuen Geschichten und Interviews fortsetzen! Unser nächstes Interview werden wir sowohl über unsere Social-Media-Kanäle als auch über unsere Website ankündigen!