EN

Türkei
Die Inhaftierung von Imamoğlu und was das mit dem Erdbeben von Istanbul zu tun hat

Ein Gastbeitrag von Aret Demirci bei FOCUS Online.
Ein verlassenes Gebäude im Stadtteil Fatih stürzt teilweise ein, nachdem ein Erdbeben der Stärke 6,2 Istanbul (Türkei) am 23. April 2025 erschüttert hat.

Ein verlassenes Gebäude im Stadtteil Fatih stürzt teilweise ein, nachdem ein Erdbeben der Stärke 6,2 Istanbul (Türkei) am 23. April 2025 erschüttert hat.

© picture alliance / Anadolu | Ali Cevahir Akturk

Istanbul steht vor einer doppelten Krise: Die politische Inhaftierung des Oberbürgermeisters und die zunehmende Gefahr eines verheerenden Erdbebens. Türkei-Experte Aret Demirci analysiert die Risiken und die Versäumnisse, die die Stadt bedrohen.

Politischer Machtkampf gefährdet Istanbuls Sicherheit

Seit beinahe zwei Monaten sitzt der Istanbuler Oberbürgermeister hinter Gittern – ein Umstand, den viele als politisch motiviertes Manöver deuten, um Erdogans größten Rivalen auszuschalten. 

Doch abgesehen von den politischen Implikationen hat seine Inhaftierung auch schwerwiegende Konsequenzen für die Katastrophenprävention in der Bosporusmetropole. Experten warnen: Ein verheerendes Erdbeben ist nicht die Frage des Ob, sondern des Wann.

Schockmomente für die Bevölkerung

Am 23. April um 12:49 Uhr Ortszeit bebte in Istanbul und Umgebung die Erde – mit einer Stärke von 6,2. Innerhalb weniger Minuten strömten Millionen Menschen auf die Straßen, in Parks und auf die wenigen freien Flächen der dicht bebauten Stadt. 

Zwar gab es keine Opfer, doch der Schock war in den Gesichtern der Menschen deutlich abzulesen. Dieselbe Frage brannte allen auf der Seele: War das bereits das große Erdbeben, vor dem Experten seit Jahren warnen? Oder folgen in den nächsten Tagen noch heftigere Erschütterungen? Und vielleicht am drängendsten: Ist die Stadt überhaupt darauf vorbereitet?

Fehlerhafte Begriffe und Versäumnisse

In den Eilmeldungen der Nachrichtensender war schnell die Rede von „Naturkatastrophe“. Der Begriff „Naturkatastrophe“ wird jedoch oft falsch verwendet. Laut dem Türkischen Wörterbuch (TDK) bezieht sich der Begriff auf „Unglücke, die durch menschliches Handeln nicht verhindert werden können“. 

Doch die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen deutlich, dass viele der Katastrophen, die die Türkei regelmäßig heimsuchen, nicht nur unvermeidbare Naturereignisse sind, sondern oft das Ergebnis eines massiven Versagens in der politischen und administrativen Prävention. Viele der Maßnahmen zur Risikominimierung wurden nicht getroffen, nicht weil sie technisch unmöglich oder zu teuer gewesen wären, sondern weil es an politischem Willen und an einer konsequenten, effektiven Umsetzung fehlte. Die Tragödie des Erdbebens vom 6. Februar 2023 hat einmal mehr die fundamentalen Schwächen im katastrophalen Management und in der Verwaltung von Krisen in der Türkei aufgezeigt.

Verlust an Fachkompetenz

Die Verhaftung von erfahrenen Stadtplanern und Bürokraten in Istanbul hat nicht nur zu einem erheblichen Verlust an Fachkompetenz geführt, sondern auch die institutionellen Kapazitäten der Stadtverwaltung erheblich geschwächt – ein Vorgang, der sich unmittelbar negativ auf die Katastrophenprävention und die Widerstandsfähigkeit der Stadt auswirken wird. 

Diese Fachleute waren maßgeblich daran beteiligt, innovative Konzepte zur Risikominimierung, urbaner Entwicklung und Katastrophenvorsorge zu entwickeln, die für Istanbul von größter Bedeutung sind. Ihr Wissen über die geopolitischen, sozialen und baulichen Herausforderungen einer Megacity war entscheidend, um langfristige Lösungen zu finden, die die Stadt besser auf Naturkatastrophen wie Erdbeben vorbereiten.

Fehlende Rechtsstaatlichkeit als Risiko

Die fehlende politische Willensbildung zur Prävention und die unzureichende Rechtsstaatlichkeit sind zwei Hauptursachen für die katastrophalen Folgen der Erdbebenkatastrophen, die immer wieder die Türkei erschüttern. 

Ein zentrales Beispiel für diese Fehleinschätzungen ist die sogenannte „Bau-Amnestie“, die 2017 vom türkischen Parlament verabschiedet wurde. Diese Regelung legalisierte nicht nur zahlreiche illegale Bauten, sondern normalisierte auch das Risiko eines Erdbebens, indem sie die Verantwortung der Verwaltung für diese Bauten in Bezug auf eventuelle Schäden aufhob. Eine rechtliche Klausel, die die Verwaltung sogar von der Verantwortung für die Schäden an diesen illegalen Bauten entband, stellte einen Freibrief für die unkontrollierte Ausbreitung gefährlicher Baupraktiken dar. 

Diese Gesetzgebung war ein entscheidender Fehler, der mit tragischen Konsequenzen in der Erdbebenkatastrophe von 2023 endete. Von den 294.000 Gebäuden, die unter diese „Amnestie“ fielen, wurden viele schwer beschädigt oder vollständig zerstört. Es war der Höhepunkt eines Prozesses, der jahrzehntelang ungebremst fortschreiten konnte, weil niemand dafür haftbar gemacht wurde. Bau-Amnestien sind leider Teil der politischen Realität in der Türkei. Mehrmals bislang in der Geschichte der Republik, ob von linken oder rechten Parteien, wurden Amnestien erlassen, um so Stimmen der Armen für sich zu gewinnen.

Fehlende Verantwortlichkeit

Obwohl das Verfassungsgericht die Klausel aufhob, bleibt die grundlegende Problematik bestehen: Es geht nicht nur um die rechtliche Verantwortung, sondern auch um das Fehlen eines funktionierenden Systems der Rechenschaftspflicht und die Erosion der Rechtsstaatlichkeit, die sich als eines der gravierendsten Probleme im Umgang mit Naturkatastrophen herausgestellt hat.

 Wenn Verantwortliche für solche katastrophalen Fehler nicht zur Rechenschaft gezogen werden, entsteht ein Klima der Straflosigkeit, das die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Katastrophen nur erhöht.

Verwaltung und Katastrophenschutz in der Krise

Doch nicht nur die Bau-Amnestie stellt ein Problem dar. Ein weiteres gravierendes Missmanagement betrifft die Zentralisierung der Verwaltung und das Fehlen von dezentralen Entscheidungsstrukturen. Nach den umfassenden Reformen, die nach dem verheerenden Erdbeben von 1999 in Kraft traten, wurde die Verwaltung zunehmend zentralisiert, und lokale Verwaltungen wurden von wesentlichen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen. 

In einer Megacity wie Istanbul mit knapp 15 Millionen Einwohnern, die mit einer Reihe von komplexen Risiken konfrontiert ist, die von der hohen Bevölkerungsdichte über die veraltete Bausubstanz bis hin zur sozialen Verwundbarkeit reichen, ist dieses zentralistische Modell jedoch nicht mehr tragfähig.

Der 6. Februar 2023 zeigte, dass die Zentralisierung der Verwaltung in Krisenzeiten massive Nachteile mit sich bringt. Die zentrale Steuerung der Katastrophenprävention und der urbanen Transformation ist ineffektiv und unzureichend, wenn sie nicht die lokalen Gegebenheiten berücksichtigt. 

Dezentrale, partizipative Planungsstrukturen, die eine direkte Beteiligung der betroffenen Bevölkerung ermöglichen, sind notwendig, um die tatsächlichen Bedürfnisse der Stadtbevölkerung zu adressieren. Diese Struktur könnte auch dazu beitragen, das Vertrauen der Bürger in die öffentliche Verwaltung wiederherzustellen und eine größere Akzeptanz für Maßnahmen zur Katastrophenvorsorge zu schaffen.

Hoffnung auf lokale Lösungen

In Istanbul ist das Fehlen dieser dezentralen, partizipativen Struktur besonders dramatisch. Die Stadt ist eine der größten und bevölkerungsreichsten Metropolen der Welt, mit Millionen von Menschen, die in sehr unterschiedlichen Lebensbedingungen leben. Von den wohlhabenden Gebieten bis hin zu den sozial benachteiligten Vierteln sind die Bedürfnisse und Risiken sehr unterschiedlich. 

Ein zentrales Verwaltungssystem ist weder in der Lage, auf diese Vielfalt einzugehen, noch kann es den komplexen Herausforderungen gerecht werden, die mit der Erdbebensicherheit und der Stadtentwicklung einhergehen. Was notwendig wäre, sind lokale Lösungen, die direkt auf die Bedürfnisse der verschiedenen Stadtteile und ihrer Bewohner eingehen.

Imamoğlus Bemühungen und deren Zerstörung

Trotz dieser Herausforderungen versuchte die Stadtverwaltung unter Ekrem Imamoğlu, einen anderen Weg zu gehen und mit partizipativen Planungsprozessen, Risikoanalysen und einem Modell der ortsnahen Transformation auf die bestehenden Probleme zu reagieren. Ziel war es, die betroffenen Menschen nicht an den Rand der Stadt zu verdrängen, sondern durch gezielte Eingriffe und Investitionen den sozialen Zusammenhalt zu bewahren. Besonders für einkommensschwache Haushalte, ältere Menschen und Mieter wurden Miet- und Bauzuschüsse eingeführt, die eine gerechtere und sozialere Stadtentwicklung ermöglichen sollten.

Doch diese Bemühungen wurden durch juristische Angriffe auf Imamoğlu und sein Team weitgehend zerstört. Die größtenteils politisch motivierten Verfahren und die Inhaftierung von wichtigen Beamten haben nicht nur das Vertrauen in die politische Führung erschüttert, sondern auch die Effizienz der Stadtverwaltung erheblich geschwächt. 

Die Absetzung – und z.T. Inhaftierung – derjenigen, die in die Entwicklung des „Vision 2050“-Dokuments involviert waren, welches auf wissenschaftlichen Daten basierte und eine strategische, datengestützte Planung der städtischen Entwicklung vorsah, war ein weiterer Schlag gegen die Katastrophenprävention. Der Verlust dieser Fachleute, die eine der wenigen tragfähigen Zukunftsstrategien für Istanbul erarbeitet hatten, bedeutet einen tiefgreifenden Rückschlag für die Stadtplanung und Katastrophenprävention.

Machtspiele und gefährliche Projekte

Ein weiteres alarmierendes Beispiel für das Versagen der Regierung im Umgang mit den realen Gefahren, denen Istanbul ausgesetzt ist, ist das umstrittene Kanal-Istanbul-Projekt. Obwohl zahlreiche wissenschaftliche Institutionen, Umweltverbände und Stadtplaner vor den Risiken dieses Projekts warnten und gerichtliche Urteile die Notwendigkeit betonten, die Infrastruktur der Stadt für die Erdbebenprävention zu verstärken, hielt die Zentralregierung an ihren Plänen für das Mega-Projekt fest. 

Die enormen Kosten von über 65 Milliarden Dollar für Kanal Istanbul könnten weit sinnvoller in den Ausbau und die Verbesserung der Erdbebensicherheit von Istanbul investiert werden. Stattdessen drängt die Regierung weiterhin dieses Projekt voran, das keinerlei realen Nutzen für die Bürger hat, sondern Ressourcen von den dringend benötigten infrastrukturellen Maßnahmen abzieht. Das Mega-Projekt im Westen der Stadt, hatte nach mehreren Interventionen der Stadtverwaltung für einige Zeit stillgelegen, doch sobald Imamoğlu und sein Team inhaftiert waren, gingen die Bauarbeiten wieder los.

Folgen des Missmanagements

Die Auswirkungen dieser Fehlentscheidungen sind nicht nur theoretischer Natur. Beim Erdbeben im Februar 2023 stürzten tausende Gebäude ein, und zehntausende Menschen kamen ums Leben. Doch was noch erschreckender ist, ist die Tatsache, dass viele der Verantwortlichen für diese katastrophalen Baufehler oder unzureichenden Katastrophenschutzmaßnahmen nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. 

In einer Atmosphäre der Straflosigkeit wird Fehlverhalten nicht nur toleriert, sondern auch normalisiert. Wenn die Verantwortlichen für solche Katastrophen nicht für ihr Versagen zur Rechenschaft gezogen werden, bleibt der Kreislauf von Missmanagement und Vernachlässigung bestehen – mit fatalen Folgen für die zukünftige Sicherheit der Stadt.

Doppelte Katastrophe: Erdbeben und Rechtsstaat

Die Erosion der Rechtsstaatlichkeit, das Fehlen von Transparenz und Verantwortlichkeit und das Versagen, aus früheren Katastrophen zu lernen, haben die Grundlage für eine noch größere Gefahr für Istanbul geschaffen. Ohne Rechtsstaatlichkeit kann kein effektives Risikomanagement existieren. 

Ohne qualifizierte Planung und Fachkompetenz können keine nachhaltigen Lösungen entwickelt werden. Und ohne die Rückkehr zu einer funktionierenden Justiz und Rechenschaftspflicht bleibt die Hoffnung auf eine sichere und widerstandsfähige Stadt ein unerreichbares Ziel. 

Ein echtes Umdenken ist notwendig, um der doppelten Katastrophe – der Erdbebenkatastrophe und der Krise des Rechtsstaats – entgegenzutreten.

 

Dieser Artikel erschien erstmals am 14. Mai 2025 bei FOCUS Online.