Taiwan
Kleine Insel, große Wirkung: Was Europa von Taiwan lernen kann

Ein Kind hält eine taiwanesische Flagge während der Feierlichkeiten zum taiwanesischen Nationalfeiertag in Taipeh, Taiwan.
© picture alliance / Anadolu | Daniel CengProfessor Dr. Jhy-Wey Shieh leitet seit 2016 die Taipeh Vertretung in Berlin. Taiwan ist eine der wenigen liberalen Demokratien in der Region. Der große Nachbar – die Volksrepublik China – lässt derzeit keinen Zweifel daran, sich die Insel notfalls mit Gewalt einverleiben zu wollen. Militärmanöver der Volksrepublik China wie das jüngste „Strait Thunder 25A“, auf denen u.a. die Landung auf Inseln geprobt wird, soll die Gesellschaft Taiwans entmutigen. Doch Menschen und Demokratie der Insel bleiben resilient. Wie gelingt das? Was können liberale Demokratien, in denen Parteien die Errungenschaften der Gewaltenteilung zunehmend in Frage stellen, von Taiwan lernen?
FNF: Die Volksrepublik China hat in den letzten Monaten den militärischen Druck auf Taiwan erhöht. Doch bisher hat sie ihr Ziel, die Selbstaufgabe Taiwans, nicht erreicht. Warum ist das so?
Professor Dr. Jhy-Wey Shieh: Erstens: Die Demokratie, auf die die Taiwaner sehr stolz sind, ist uns nicht vom Himmel gefallen. Denn es sind viele mutige Taiwanerinnen und Taiwaner auf der Strecke geblieben, damit wir uns von der Diktatur, unter der Taiwan länger als vier Jahrzehnte gelitten hatte, befreien konnten. Also, nie wieder Diktatur. Schon allein aus diesem Grund werden die Chinesen es nie schaffen, uns zur Selbstaufgabe zu zwingen.
Zweitens: So wenig Taiwan völkerrechtlich anerkannt ist, spielt diese kleine Insel in der ersten Inselkette geostrategisch eine solche gewichtige Rolle, und zwar spätestens seit Anfang des kalten Krieges, dass weder die USA noch z. B. Japan es sich leisten können, Taiwan an China zu verlieren. Dann hätte China den Zugang zum Westpazifik und wäre eine direkte Gefahr für oben Japan, wie auch Südkorea, und unten die Philippinen rechts und Vietnam links am Eingang zum Südchinesischen Meer. Denn dann würde aus Taiwan ein maritimer Stützpunkt für China werden, den General Douglas MacArthur vor über 70 Jahren mit einem unsinkbaren Flugzeugträger verglichen hat. China würde die Handelsseewege des ganzen Gewässers von der Indo-Pazifik-Region kontrollieren können und aus diesem Vorteil ein so mächtiges Erpressungsmittel schmieden können, dass sich Handelsnationen, wie die USA, Japan, Südkorea, Deutschland, Frankreich und Großbritannien usw. dem chinesischen Regime beugen müssten.
Darüber hinaus darf man aber auch nicht vergessen, dass Taiwan von der Größe her zwar klein ist, militärisch jedoch oho! Die Bedrohung durch China besteht für uns Taiwaner eigentlich seit länger als 50 Jahren ununterbrochen. Das heißt, wir sind vor China rund um die Uhr auf der Hut. Das taiwanische Verteidigungsministerium beobachtet die Bedrohung durch China genau und ergreift entsprechende Gegenmaßnahmen. Zum Beispiel: Am 1. April 2025 führte China ein Militärmanöver in der Nähe von Taiwan durch. Nach der Analyse der Bedrohungslage und der möglichen weiteren Schritte wird die Lage derzeit weiterhin mit den regulären Streitkräften in erhöhter Einsatzbereitschaft gehandhabt. Die nationalen Streitkräfte haben an demselben Tag bereits eine „Sofortige Gefechtsbereitschaftsübung“ durchgeführt. Der Fokus liegt dabei auf der Verhinderung einer möglichen Blockade durch die chinesische Armee oder einer Eskalation von der Übung in einen tatsächlichen Krieg.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass Taiwan nicht allein im Kampf gegen die Bedrohung durch China steht. Als die „Volksbefreiungsarmee“ Chinas am 1. April ohne Vorwarnung ein Militärmanöver startete, erklärten die USA sofort, dass solche eskalierenden militärischen Einschüchterungstaktiken die Spannungen nur weiter verschärfen und den Frieden sowie die Stabilität in der Taiwanstraße untergraben würden. Die USA verurteilten Chinas grundlose, unverantwortliche Drohungen und militärischen Maßnahmen in Taiwans Umgebung und betonten, dass sie Taiwan weiterhin bei der Bewältigung von militärischem, wirtschaftlichem, informationellem und diplomatischem Druck aus China unterstützen werden. Zuvor hatte der US-Verteidigungsminister Pete Hegseth während seines Besuchs in Tokyo am 30. März erklärt, dass die USA sicherstellen werden, eine starke, einsatzbereite und zuverlässige Abschreckung im Indopazifik, einschließlich der Taiwanstraße, aufrechtzuhalten. Japan sei ein unverzichtbarer Partner der USA bei der Eindämmung der militärischen Aggression Chinas in Asien, und daher werde die gemeinsame Kommandofähigkeit der US-Streitkräfte in Japan weiter verbessert.
Die Zukunft der demokratischen Staaten ist untrennbar miteinander verknüpft.
Gewaltenteilung, die unabhängigen höchsten Gerichte, eine offene Gesellschaft, die für die Vielfalt Taiwans stehen. Weshalb ist das in der Region schon fast ein Alleinstellungsmerkmal?
Wie Sie sagen, genießt Taiwan eine hochgradig demokratische, freie und offene Gesellschaft und hat einst ein Wirtschaftswunder in Asien geschaffen. Doch ist es an und für sich kein Wunder, dass wir das schaffen konnten, sondern es ist das Ergebnis des unermüdlichen Kampfes des taiwanischen Volkes, das trotz autokratischer Herrschaft für seine Rechte gestritten hat.
Wenn man auf die Geschichte dieser Insel zurückblickt, wurde Taiwan seit dem 16. Jahrhundert erst von europäischen Mächten wie den Niederlanden und Spanien kolonisiert, später vom Mandschu-Reich (Qing-Dynastie) beherrscht und schließlich zu einer Kolonie Japans gemacht. 1945 wurde Taiwan von Japan an die Republik China übergeben. Kaum waren zwei Jahre vergangen, ereignete sich 1947 das 228-Massaker, und auf der ganzen Insel Taiwan brach ein Aufstand gegen den Kuomintang (KMT)-Militärgouverneur aus. 1949 verlegte die von der KMT kontrollierte Regierung der Republik China ihren Sitz von Festlandchina nach Taiwan, wobei etwa zwei Millionen Menschen nach Taiwan geflohen sind. In dieser Zeit wurde das Kriegsrecht verhängt. Anschließend herrschte in Taiwan ein autoritäres Einparteienregime, das die Gründung politischer Parteien verbot. Von Presse-, Meinungsfreiheit konnte überhaupt keine Rede sein. Das war eine Zeit, die als „Weiße Terrorherrschaft“ bekannt wurde.
Erst 1987 hob die Regierung der Republik China das Kriegsrecht auf, was den Demokratisierungsprozess Taiwans beschleunigte. Zur selben Zeit ereignete sich 1989 aber das Tian’anmen-Massaker in China. Zwischen 1991 und 2000 wandelte sich Taiwan von einem autoritären System zu einer Demokratie, und 1996 fand die erste direkte Präsidentschaftswahl statt. 2000 kam es zur ersten Machübertragung zwischen politischen Parteien, womit die 50-jährige Alleinherrschaft der KMT endete. 2016 wurde die erste Frau zur Präsidentin gewählt. 2024 gewann die Demokratische Fortschrittspartei (DPP) eine dritte aufeinanderfolgende Amtszeit.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Taiwaner durch die Herrschaft verschiedener Staaten und den Wechsel politischer Regime eine vielfältige nationale Identität entwickelt haben. Diese Vielfalt hat im Laufe der Zeit zur Toleranz und zur demokratischen Resilienz der taiwanischen Gesellschaft beigetragen. Auch im Bereich der Geschlechtervielfalt ist Taiwan Vorreiter – wir sind das erste Land in Asien, das die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert hat. Dieser historische Weg und unsere heutige Vielfalt und Demokratie sind in Asien tatsächlich einzigartig. Deshalb sind wir stolz darauf, dass Taiwan als „Leuchtturm der Demokratie in Asien“ bezeichnet wird.
Seit den Parlamentswahlen im Januar 2024 kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen im Parlament zwischen Regierung und der Opposition, deren Partei auch den Präsidenten stellt. Worum geht es da im Kern? Ist das ein Zeichen der Schwäche oder der Stärke?
Zuerst eine kurze Erklärung über den Hintergrund der Auseinandersetzung im Parlament: Im Jahr 2024 wurde Herr Lai Ching-te von der DPP zum Präsidenten gewählt, womit die DPP eine dritte aufeinanderfolgende Amtszeit gewann. Allerdings erreichte sie keine Mehrheit im Legislativ-Yuan (alias das Parlament Taiwans) und bildete somit eine Minderheitsregierung im Parlament. Laut dem Wahlergebnis wurden im Januar 2024 113 Abgeordnete ins Parlament gewählt. Die KMT, die DPP und die Volkspartei (TPP) erhielten jeweils 52, 51, 8 Sitze und zwei Parteilose, wodurch keine Partei eine absolute Mehrheit erlangte.
Seitdem setzten die KMT und die TPP gemeinsam mehrere sogenannte „Parlamentsreformgesetze“ durch und bauten ihre Macht beständig aus, wobei nicht selten dubiose, ja, verfassungswidrige Prozesse auch rücksichtslos über die Bühne gebracht worden sind. Dadurch kam es immer wieder zur ernsthaften, unversöhnlichen Auseinandersetzungen zwischen der Regierungspartei und den beiden oppositionellen Parteien und der Gesellschaft. Dies hat viele NGOs sehr beunruhigt. Sie vermuteten vor allem bei der KMT-Fraktion eine Pro-China-Attitüde, da der Fraktionsvorsitzende der KMT häufig China besuchte, um sich mit einigen hochrangigen Politikern und Beamten zu treffen. Worüber sie sich dabei ausgetauscht haben, ist nicht bekannt.
Schließlich haben sich diese NGOs zusammengetan und starteten eine Volksinitiative zur „Rückruf-Aktion“ von Parlamentsabgeordneten. Die taiwanische Verfassung lässt es tatsächlich zu, direkt gewählte Abgeordnete aus ihrem Amt zu entheben. Es ist vergleichbar mit dem Fall, wenn deutsche Automobilhersteller manchmal aufgrund von Problemen mit Bauteilen bestimmte Modelle zurückrufen, um diese Fahrzeuge aus dem Verkehr zu nehmen. Man könnte sagen, dass dies ein Ausdruck der Meinungsfreiheit sowie der Demokratie ist.
Professor Shieh, liberalen, westlichen Demokratien, wird von ihren Feinden vorgeworfen, schwach zu sein, gerade im Vergleich zu einer Diktatur. Was ist Ihr Ratschlag für die Länder der Europäischen Union auf die Machtgelüste ihres westlichen Nachbarn Russland zu reagieren?
Gerade weil Taiwan eine Zeit der Diktatur durchlebt hat, wissen wir, wie wertvoll Demokratie und Freiheit sind und wie sehr die Menschen danach verlangen. Diktatorische Regime mögen nach außen hin stark erscheinen, doch sie sind oft von Selbstherrlichkeit, Korruption und unmenschlicher Unterdrückung geprägt, die Menschenrechte mit Füßen treten.
Für europäische Länder kann der Krieg zwischen Russland und der Ukraine als warnendes Beispiel dienen. Autokratische Staaten wie Russland und China sind mit ihrem Machtstreben niemals zufrieden – sie können über Nacht in demokratische Länder einmarschieren, sei es aus eigennützigen Motiven oder um ihre schwächelnde Wirtschaft zu stabilisieren. Daher müssen Deutschland und andere demokratische Länder in Europa sich wehren können, über die Fähigkeit zur militärischen Abwehr verfügen und „kriegstüchtig“ sein, um die diktatorischen Staaten abzuschrecken.
Dies lässt sich klar aus dem Beispiel Taiwans ableiten: Die Bedrohung durch China ist allgegenwärtig. Sollte China Taiwan kontrollieren können und es als Marinebasis für die Expansion in den Indopazifik-Raum nutzt, könnte es die Schifffahrtsrouten kontrollieren. Auch wenn Taiwan fast 10.000 Kilometer von Deutschland entfernt ist, würden die Handelskosten für die Bundesrepublik steigen, die Wirtschaft des Landes würde schwächer werden, die Arbeitslosenquote steigen, Unzufriedenheit unter der Bevölkerung herrschen und dies könnte schließlich zu einer instabilen Regierung führen.
Europäische Staaten sollten erkennen, dass, selbst wenn die Aggression eines autokratischen Regimes noch weit entfernt erscheint, egal ob an der Grenze der Ukraine oder in der Taiwanstraße, die Folgen eines Krieges weltweit schwerwiegende Auswirkungen haben können. Die zentrale Rolle Taiwans in der Halbleiterindustrie, sowie die Tatsache, dass 50% des globalen Handels durch die Taiwanstraße verläuft, unterstreichen einmal mehr, dass europäische Demokratien es nicht zulassen sollten, dass China Taiwan angreift. Die Zukunft der demokratischen Staaten ist untrennbar miteinander verknüpft.