Migration
Tunesien als Türsteher Europas?
Migranten steuern ein Boot von der Nordküste Afrikas über das Mittelmeer in Richtung Italien.
© picture alliance/dpa | Oliver WeikenAm 22. Oktober kam es wieder zu einem tödlichen Bootsunglück im Mittelmeer: Ein Boot mit 70 illegalen Migranten aus Subsahara-Afrika an Bord sank vor der tunesischen Küste nahe der Küstenstadt Mahdia. Den Angaben der tunesischen Behörden gemäß konnte die Küstenwache 30 Überlebende retten, 40 Bootsinsassen – darunter auch Kinder – ertranken. Die Behörden haben ein Ermittlungsverfahren eröffnet.
Hinter dieser knappen offiziellen Verlautbarung stehen vielfältige Herausforderungen und Probleme, die weit über die persönlichen Schicksale und vielfältigen Tragödien der informellen Migranten hinausgehen.
Das Bootsunglück von Mahdia ereigneten sich im Golf von Hammamet, einer Ferienregion, die auch bei deutschen Urlaubern sehr beliebt ist.
© FNFDie Migrationsroute über das zentrale Mittelmeer gilt als eine der gefährlichste Flucht- und Migrationsroute weltweit - und die gefährlichste Route nach Europa. Migranten, die die zentrale Mittelmeerroute nutzen, überqueren das Mittelmeer vor allem von Libyen und Tunesien aus in Richtung Italien und Malta. Traditionell wird diese Route vor allem von Menschen aus West- und Zentralafrika, dem Horn von Afrika und dem Nahen Osten genutzt. In den letzten Jahren sind jedoch verstärkt Migranten aus Syrien, Bangladesh, Pakistan und Tunesien hinzugekommen. Wirtschaftliche Not, militärische Konflikte, politische und persönlich erlebte Gewalt sind die Hauptmotivation für die Migranten, sich auf diese lebensgefährliche Reise zu machen. Gemäß den Angaben der IOM (UN - International Organization of Migration) sind 2025 bisher rund 120.000 illegale Migranten über den Seeweg nach Europa gelangt. Dabei hat es 2025 bisher knapp 1.900 Todesopfer gegeben, davon allein rund 1.000 Tote auf der zentralen Mittelmeerroute.
Im Juli 2023 unterzeichnete die tunesische Regierung eine Kooperationsvereinbarung mit der EU in fünf Arbeitsfeldern, mit einem Schwerpunkt auf Migration und Mobilität. Die EU sagte Tunesien eine Soforthilfe von 105 Mio. Euro zu, um den Küstenschütz zu verbessern und illegale Migration zu bekämpfen. Diese Mittel kamen v.a. der tunesischen Küstenwache zu Gute. Gleichzeitig macht die tunesische Politik rhetorisch Front gegen die afrikanischen Migranten.
Die Äußerung von Staatspräsident Kais Saied, „das unerklärte Ziel der Wellen von illegalen Einwanderern ist es, Tunesien zu einem rein afrikanischen Land zu machen ohne Verbindung zu den arabischen und islamischen Nationen“, (22.2.23) sorgte für viel Kritik in den sozialen Medien, provozierte aber auch fremdenfeindliche Übergriffe auf Migranten vor Ort.
Während die tunesische Regierung darauf hinwies, dass man allein im Jahr 2023 erfolgreich den illegalen Grenzübertritt von rund 40.000 Personen verhindert habe, drückten Menschenrechtsorganisationen und Mitglieder des EU-Parlaments ihre Besorgnis über die zunehmende Härte und Fälle von Menschenrechtsverletzungen der Sicherheitskräfte gegenüber den Migranten aus.
Das restriktive Vorgehen gegen Migranten hat zu einer neuen Situation im Land selbst geführt. Denn jetzt ist Tunesien nicht mehr nur eine Durchgangsstation für Migranten nach Europa. Viele Menschen bleiben in den Küstenstädten des Landes hängen, weil ihnen die Überfahrt nach Europa nicht gelingt. Der Besitzer einer kleinen Ferienpension im Badeort Kelibia fasst das so zusammen: „Früher haben wir die Migranten gar nicht wahrgenommen. Sie kamen hier an und haben nachts das Boot genommen.“ Jetzt ist das kaum noch möglich, obwohl die italienische Küste sehr nahe ist. Vom Ferienort Kelibia aus kann man die nur 70km entfernte italienische Insel Pantelleria bei klarer Sicht deutlich sehen.
Die Migranten müssen jetzt für längere Zeit in den tunesischen Küstenstädten unterkommen und sich ihren Lebensunterhalt verdienen. Viele tun das im informellen Sektor in der Gastronomie, als Bettler, Straßenhändler oder auch als Müllsammler. Damit treten sie jetzt z.B. in Konkurrenz zu den einheimischen „Barbechas“, den Menschen, die ihren prekären Lebensunterhalt damit verdienen, dass sie Plastik, Kartons und weitere recyclebare Abfälle an Müllsammelstellen verkaufen. Inzwischen sieht man immer mehr Menschen aus Subsahara- Afrika, die ebenfalls ihre mit Plastik-Müll vollgeladenen Karren durch die Wohngebiete schieben und im Sommer auf den Gehwegen schlafen. Soziale Konflikte mit der einheimischen Bevölkerung können in einer solchen Situation leicht entstehen und eskalieren.
Wer sich in Tunesien aktuell für irreguläre Migranten einsetzt oder mit ihnen humanitär arbeitet, gerät ebenfalls in die Schusslinie der Politik. Erst im Oktober wurden mehreren renommierten NGOs, die auch zu Fragen der Migration arbeiten, alle weiteren Aktivitäten bis auf weiteres untersagt, offiziell wegen „administrativer Unregelmäßigkeiten“. Allerdings vermuten Vertreter der Zivilgesellschaft dahinter politische Motive.
Das Thema der irregulären Migration ist in Tunesien inzwischen zu einem brisanten Thema geworden, das auch innenpolitisch instrumentalisiert wird. Viele Tunesier sehen bei diesem Thema vor allem die EU in der Verantwortung. Denn schließlich wollen die Migranten nach Europa und die EU habe – so sehen es viele Menschen – ihr Migrationsproblem an ihrer Außengrenzen verlagert und damit ihre Verantwortung delegiert. Gleichzeitig sähen die Europäer einfach über die rigide, oft drakonische Handlungsweise der tunesischen Behörden gegenüber den Migranten hinweg und würden damit unglaubwürdig, wenn sie an anderer Stelle die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten forderten.
Trotz der sozialen Konflikte und der Vorbehalte vieler Tunesier gegenüber den irregulären Migranten aus dem Süden haben doch viele Menschen ähnliche Wünsche. Tunesiens Arbeitsmarkt ist schwierig. Bei einer Jugendarbeitslosigkeit von ca. 30% träumen viele junge Tunesier von einem besseren Leben in Europa, sei es über die offiziellen Mechanismen der Fachkräfte-Migration oder über informelle Wege. Auch in Tunesien gibt es viele junge Menschen, die bereit sind „das Boot zu nehmen“ und die lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer auf sich zu nehmen für die Hoffnung auf ein besseres Leben.