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Europapolitik
Strategische Einigkeit durch Zeitenwende?

Emmanuel Macron, Olaf Scholz,

Emmanuel Macron und Olaf Scholz

© picture alliance / Eventpress | Eventpress MP

Die Äußerungen des französischen Präsidenten zu Taiwan haben in Europa hohe Wellen geschlagen. Zu Recht. Emmanuel Macron ist dieses Mal zu weit gegangen. Er wollte einmal mehr seine Partner provozieren und damit eine neue Debatte über die strategische Autonomie Europas in Gang bringen. Am Ende hat er sich diplomatisch in die Nesseln gesetzt. Seine Botschaft ist untergegangen und es hat sich der Eindruck festgesetzt, er wolle im Konflikt um den Inselstaat die Äquidistanz zu den USA und China wahren. Dabei wurde oft übersehen, dass Frankreich mit seinen Überseegebieten und seiner 9 Millionen km² großen ausschließlichen Wirtschaftszone durchaus Interessen in der Region hat, und zwar vitale.

Eine bipolare Welt? Nicht im Interesse Europas

Im Kern hat Emmanuel Macron nichts anderes getan, als auf den grundlegenden Unterschied zwischen der amerikanisch-chinesischen Rivalität und den europäisch-chinesischen Beziehungen hinzuweisen. Hiernach sind Europa und China nicht nur Rivalen, sondern auch Wettbewerber und Partner: Unternehmen wie Volkswagen oder Mercedes, die ca. 40 Prozent ihres Absatzes in China erzielen, werden nicht widersprechen. Die USA und China aber kämpfen um die Vorherrschaft auf dem Feld der (Zukunfts)Technologien und letztlich auch um die militärische Präsenz im Indopazifik. Eine solche Rivalität kann nicht im Interesse Europas sein.  

Die EU muss eine eigene, gemeinsame Antwort auf den Aufstieg und die Machtansprüche Chinas finden. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Frankreichs Position näher an der USA liegt als an der von Chinas wichtigstem Handelspartner in der EU: Deutschland. Es war Frankreich, das in der EU das „Screening“ durchsetzte, die Prüfung chinesischer Investitionen in Europa aus Gründen der nationalen Sicherheit. Es war eine Fregatte der französischen Marine, die Prairial, die unmittelbar nach Macrons Rückkehr durch die Taiwanstraße fuhr. Im September 2021 hatte die „Bayern“ dies vermieden – aus Angst vor Wirtschaftssanktionen. Als der chinesische Staatspräsident Xi im März 2019 Paris besuchte, lud Macron die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker dazu ein. Es hätte der Beginn einer wahrhaft europäischen Chinapolitik sein können. Doch im November 2022 zog es Bundeskanzler Scholz vor, allein nach Peking zu reisen.

Europäische Souveränität

Anders als für de Gaulle ist Europa für Emmanuel Macron mehr als ein Mittel, die Unabhängigkeit und den Einfluss Frankreichs zu wahren. Es ist für ihn ein eigenständiges Projekt, das er mit dem Begriff „Europäische Souveränität“ umschreibt. Damit meint er Handlungsfähigkeit. Diese ist aber nicht mit Macht gleichzusetzen. Sie ist eine Voraussetzung dafür. Die EU kann nur dann eine geopolitische Rolle in der Welt beanspruchen, wenn sie handlungsfähig und in der Lage ist, in der unmittelbaren Nachbarschaft für Ordnung zur sorgen. Das gilt nicht zuletzt für den Krieg in der Ukraine. Darauf wollte auch der französische Präsident in seinem Interview mit Les Echos hin.

Hierüber herrscht Konsens mit dem wichtigsten Partner, Deutschland, zumindest was öffentliche Erklärungen angeht. Noch vor der Rede Macrons an der Sorbonne im September 2017 hatte die deutsche Bundeskanzlerin, Angela Merkel, im Mai desselben Jahres erklärt, dass „wir Europäer unser Schicksal in die eigene Hand nehmen müssen“. Der deutsch-französische Aachener Vertrag von 2019, der Koalitionsvertrag der deutschen Bundesregierung von 2021, die Europarede von Bundeskanzler Scholz im Januar in Prag und schließlich seine Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg (9. Mai 2023) enthalten alle das Bekenntnis zur Europäischen Souveränität.

Souverän zu sein, bedeutet nicht, die transatlantische Brücke einzureißen, sondern die Fähigkeit zu haben, – wenn nötig – eigenständig handeln zu können. Beispiel Sudan: Die amerikanisch geführte Luftbrücke, auf die Deutschland und Frankreich zunächst gehofft hatten, hat es nicht gegeben. Am Ende musste die Rettungsmission für europäische Bürger in Eigenregie durchgeführt werden, d.h. ohne die Amerikaner. Deutschland und Frankreich spielten dabei eine entscheidende Rolle.   

Das Konzept der Europäischen Souveränität kehrt in gewisser Weise zu den Anfängen der transatlantischen Partnerschaft zurück. Schon Präsident John F. Kennedy wollte, dass diese auf zwei Säulen ruht, der amerikanischen und der europäischen. Das Prinzip der Lastenteilung ist in Europa akzeptiert. Es gilt auch für das Verhältnis zwischen EU und NATO, zu deren Komplementarität sich Emmanuel Macron bereits in seiner Sorbonne-Rede (27. September 2017) bekannt hat. Lastenteilung kann aber nur funktionieren, wenn man sich auf beiden Seiten des Atlantiks der gemeinsamen und unterschiedlichen Interessen bewusst ist. Die EU muss sich in diesem Kontext darauf einstellen, dass die Prioritäten der USA in Asien und nicht in Europa liegen. Die National Security Strategy spricht hier eine eindeutige Sprache.

Die EU als Lerngemeinschaft

Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat nach Ansicht vieler Analytikerinnen und Analytiker die Handlungsunfähigkeit Europas vor allem im militärischen Bereich offenbart. Vor diesem Hintergrund europäische Souveränität zu reklamieren, sei nicht nur töricht, sondern lebensgefährlich. Das ist zu kurz gegriffen.

Abgesehen von der Feststellung, dass der Beitrag der Europäer zur Verstärkung der Ostflanke der NATO immer größer wird, braucht es ein umfassendes Verständnis von Handlungsfähigkeit. Die EU, (ähnlich dem Westen), ist eine Lerngemeinschaft, sie lernt in Krisen. Dies hat schon die Eurokrise gezeigt, die nicht nur überwunden wurde, sondern auch neue Instrumente der Handlungsfähigkeit hervorbrachte. Hierzu gehören vor allem der Europäische Stabilitätsmechanismus, die Bankenunion und die wachsende Einsicht, dass die Europäische Union eigene Mittel zur Stärkung der eigenen Resilienz braucht. Als Reaktion auf die Corona-Krise wurde der Europäische Wiederaufbaufonds eingerichtet, ein Modell für die Bewältigung künftiger Krisen. Im Krieg gegen die Ukraine konnten sich die EU-Mitglieder innerhalb weniger Tage auf Sanktionen gegen Russland einigen, für die vor diesem Krieg nie Einstimmigkeit herzustellen war. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte finanziert die EU zudem militärische Unterstützung für ein Land im Krieg.

Konvergenz in Sicht?

Die Geschichte der europäischen Integration zeigt, dass die großen Entscheidungen über die Zukunft der Europäischen Union Führung erfordern. Sie wurde in den meisten Fällen von Deutschland und Frankreich ausgeübt. Eine Alternative ist nicht erkennbar: Polen als erklärter Gegner der europäischen Souveränität wird diese Rolle nicht übernehmen können.  

Der disruptive Präsident ist für den zögernden Bundeskanzler zwar ein unbequemer Partner. An ihm führt aber kein Weg vorbei. Macron hat seinerseits erkannt, dass sich der Traum von europäischer Souveränität ohne Deutschland nicht realisieren lassen kann. Freundschaftsverträge (Italien, Spanien), Militärallianzen (Griechenland), privilegierte Partnerschaften (Niederlande) und Bromance sind das eine. Eine, der gesamten EU zugutekommende Strategie zu entwickeln, erfordert aber ein enges deutsch-französisches Zusammengehen. Nicolas Sarkozy und François Hollande, die zu Beginn ihrer jeweiligen Amtszeit von einer Alternative zu Deutschland geträumt hatten, machten dieselbe Erfahrung. Es ist an der Zeit, mit der „strategischen Nabelschau“ (Thomas Gomart) zu brechen.   

Der Krieg „als Vater aller Dinge“ (Heraklit) hat eine Konvergenz zwischen Deutschland und Frankreich herbeigeführt. „Zeitenwende“ gibt es nicht nur in Deutschland. Was für Deutschland die Regierungserklärung von Bundeskanzler Scholz am 27. Februar 2022 war, könnte für Frankreich die „Revue nationale stratégique“ (9. November 2022) sein.

Deutschland hat damit seine Vision von der gesamteuropäischen Friedensordnung aufgegeben und definiert nunmehr europäische Sicherheit vor bzw. gegen, und nicht mit Russland. Mit der Aufgabe von Nord Stream 2 und der Entdeckung der Risiken des Handels mit China ist schließlich auch der Traum vom „Wandel durch Handel“ zerplatzt. Deutschland beginnt, wirtschaftliches Denken durch geopolitisches Denken zu ergänzen. Es wird sich des Zusammenhangs von Diplomatie und Macht bewusst. Dies sind Anzeichen eines strategischen Denkens, das Deutschland der französischen Tradition näherbringen sollte.

In den beiden derzeit wichtigsten Fragen europäischer Außen- und Sicherheitspolitik liegen Deutschland und Frankreich praktisch auf einer Linie: Russland ist eine langfristige Bedrohung, gegen die die Abschreckung verstärkt werden muss, aber auch eine „geographische Tatsache“ (E. Macron), mit der eines Tages auch verhandelt wird. Was China angeht, so teilen beide Länder die von der Europäischen Kommission vertretene Politik des „De-risking“. Das Treffen zwischen Annalena Baerbock und Catherine Colonna am 10. Mai in Paris hat dies deutlich gemacht.

Die eigentliche Bewährungsprobe für die Europäische Souveränität und eine deutsch-französische Führung ist jedoch die europäische Verteidigung. Der von Deutschland und Frankreich auf den Weg gebrachte und unter französischer Ratspräsidentschaft verabschiedete Strategische Kompass ist eine gute Grundlage. Entscheidend aber wird es sein, ob der Aufbau einer wahrhaft europäischen Rüstungsindustrie gelingen wird. Das gemeinsame Panzer-Projekt „Main Ground Combat System“ zeigt aber: Es wird schwierig sein.

Ein neues Kapitel?

Mit dem angekündigten Staatsbesuch des französischen Präsidenten in Deutschland, dem ersten seit 23 Jahren, könnte ein neues Kapitel aufgeschlagen werden. Gut gemeinte Erklärungen und themenbezogene Klausuren werden aber längst nicht ausreichen, um aus der aktuellen Konvergenz eine tragfähige Strategie zu machen. Es braucht einen Ruck, den Willen, gemeinsam etwas zu bewegen, im Sicherheits- aber auch Verteidigungsbereich.  

„Europäische Souveränität … ist eine absolute Notwendigkeit in einem gefährlichen Umfeld“, sagte Emmanuel Macron in Den Haag (11. April 2023). Der Weg dahin wird lang und holprig sein. Eine Alternative gibt es aber nicht.