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Bürgerrechte
Proteste in Serbien

Bilanz einer unruhigen Woche
Sitzdemonstration vor dem serbischen Nationalparlament
Sitzdemonstration vor dem serbischen Nationalparlament © picture alliance/dpa | Boris Babic

Am 7. Juli verzeichnete Serbien seit Ausbruch der Corona-Pandemie den höchsten Anstieg an neuen Corona-Erkrankten und Todesfällen an einem Tag. In einer halbstündigen Ansprache wandte sich Präsident Vučić an die Öffentlichkeit und kündigte neue Maßnahmen an – darunter auch die erneute Einführung einer dreitägigen Ausgangssperre über das Wochenende. Binnen weniger Stunden kam es zu Protesten und Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei.

Nach der Ankündigung des Präsidenten ging ein Ruck durch das Land. Schon die Einführung der ersten Ausgangssperre zwischen dem 19. März bis 7. Mai hatte viele Bürger aufgebracht. Innerhalb von wenigen Stunden versammelten sich Demonstranten vor dem Parlament in Belgrad – die große Mehrheit von ihnen wollte ruhig und gewaltfrei protestieren.

Die Ereignisse an den beiden darauffolgenden Abenden nahmen jedoch einen anderen, schockierenden Verlauf. Nach dem gewaltsamen Eindringen von Rechtsextremisten ins Parlamentsgebäude und von Hooligans provozierten Straßenschlachten mit der Polizei setzten die Sicherheitskräfte kaum begründbare Härte und Gewalt – auch gegen die größtenteils friedlich Protestierenden – ein. Der Politologe Vuk Velebit fasste die Wahrnehmung vieler Beobachter mit seiner Einschätzung zusammen, dass die Regierung und der Präsident den größten Nutzen aus den gewaltsamen Entwicklungen zögen. So könnten die Proteste in den Medien als „terroristisch“ bezeichnet, die Polizeigewalt gerechtfertigt und der Präsident als „einzig vernünftige Kraft“ im Land dargestellt werden. Die Bilder, die nun um die Welt gingen, erinnerten laut der Juraprofessorin Vesna Rakić Vodinelić, an die neunziger Jahre – und damit an eine Zeit, die viele Menschen in Serbien und in der Region hinter sich lassen möchten.

Auch nach Tagen ist nicht gesichert festzustellen, ob die Proteste spontan oder organisiert stattgefunden haben. Vieles deutet auf Spontanität, zumindest bei der Mehrheit der Demonstranten, hin. Erst später schlossen sich weitere Gruppen den Protesten an, die diese für ihre eigenen Ziele instrumentalisieren wollten. So sorgte etwa der Auftritt einer durch Polizeigewalt verletzten Demonstrantin russischer Herkunft für Aufsehen, die erklärte, Vučićs Diktatur bekämpfen zu wollen. Angeblich wurden im Laufe der Proteste auch noch Bürger weiterer Staaten identifiziert, was die Regierung prompt dazu veranlasste, ausländische Geheimdienste als die Drahtzieher der Unruhen auszumachen.

Der dritte Abend der Proteste verlief im Unterschied zu den beiden vorangegangenen friedlich und gewaltfrei. Die von den Demonstranten ausgegebene Parole „Setz dich hin, lass dich nicht über den Tisch ziehen!“ wurde weitestgehend befolgt und erwies sich als Erfolgsrezept gegen Provokateure jeglicher Couleur, deren potenziell aggressives Verhalten dadurch sofort zu enttarnen gewesen wäre. Durch dieses Vorgehen wurde auch der Polizeigewalt Einhalt geboten. Stattdessen prägten nun tausende friedlich vor dem Parlament sitzende jungen Menschen das öffentliche Bild.  

Machtgefüge bekommt erste Risse

Trotz weiter ansteigenden Coronafällen wollen sich einige Demonstranten auch weiterhin vor dem Parlament versammeln und ihr Demonstrationsrecht ausüben. Am Tag vor den Ende Juni stattgefundenen Parlamentswahlen hatte die unabhängige Nachrichtenagentur „BIRN“ verkündet, dass die Corona-Zahlen im Vorfeld der Wahlen offensichtlich manipuliert und künstlich niedrig gehalten wurden. Diese Nachricht brachte viele Bürgerinnen und Bürger gegen das „System Vučić“ auf und riefen unzählige alte Affären und Verfehlungen der staatlichen Macht in Erinnerung. Hinzu kommt ein oft pathetisch und rechthaberisch auftretender Präsident, der eigene Fehler gerne auf andere schiebt – wie auch jetzt im Fall der weiter ansteigenden Infektionszahlen.  

Die Macht des in dieser Situation wenig souverän und überzeugend auftretenden Präsidenten zu Anfang der Proteste schien, wenn nicht gefährdet, dann doch vielleicht Kratzer bekommen zu haben. Die Wahlen vom 21. Juni haben ihn zwar parlamentarisch zunächst gestärkt und seine Handlungsmöglichkeiten erweitert. Die ohnehin zweifelhafte Legitimität seiner Macht hat jedoch anscheinend erste Risse bekommen, die im Zuge der absehbaren Wirtschaftskrise und eines unter den Coronazahlen womöglich noch kollabierenden Gesundheitssystems tiefer werden dürften.