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#FemaleFowardInternational
Wiederaufbau einer zersplitterten Gesellschaft

Lernen Sie Nasiha Pozder aus Bosnien-Herzegowina kennen
Pozder

Wie überlebt man als ausgebildete Architektin in der Welt der Politik? Was macht man als Frau, wenn männliche Parlamentarier sich mehr über Ihr Aussehen als über Ihre Reden und Gesetzesvorlagen äußern? Ist es möglich, in einem zersplitterten politischen System, das sich immer noch mit den Kriegstraumata und der glorreichen Vergangenheit vor 70 Jahren beschäftigt, eine andere Geschichte zu erzählen? Nasiha Pozder, Mitglied des Abgeordnetenhaus von Bosnien und Herzegowina von der Naša Stranka-Partei (zu Deutsch „Unsere Partei”), hat zu jeder dieser Fragen viel zu sagen.

Ein Doktortitel in Architektur und Städtebau und eine erfolgreiche akademische Karriere reichten Pozder nicht. Sie erkannte, dass es für sie und ihre Tochter keine Zukunft gab, wenn sich ihr Land nicht grundlegend verändern würde. Daher nahm sie 2011 die Einladung an, sich einer Bewegung anzuschließen, die 2008 von im Ausland ausgebildeten, liberalen und linksorientierten Bosniern gegründet wurde und sich zum Ziel gesetzt hatte, den korrupten Status Quo zu stürzen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich in den Kreisen der Bürgerbewegung ihrer Heimatstadt Sarajevo wegen ihrer Kritik an umstrittenen Städtebauplänen und ihr Engagement für Nachhaltigkeitsinitiativen bereits einen Namen gemacht.

Nasiha Pozder
© FNF

Eine Urbanistin in der Welt der Politik

“Sie wollten jemanden mit meinem Profil, weil ich in der städtischen Szene von Sarajewo ziemlich aktiv war, über Korruption im Städtebau sprach und versuchte, meine Stimme zu städtebaulichen Themen zu erheben und zu sagen, dass nicht nur Investoren, sondern auch Politiker und Stadtplaner, Schuld tragen”, erzählt sie. Der Zeitpunkt für diese Einladung hätte jedoch nicht schlechter sein können - zu dieser Zeit promovierte Pozder gerade, zog ein Kind groß und kümmerte sich um ihren kranken Vater. “Es war eine wirklich schwere Zeit für mich, aber anderseits stellte sich die Frage, ob ich hier bleiben oder gehen sollte - zu der Zeit hatte man mir einen Job an der Technischen Universität Delft in Holland angeboten. Aber ich habe mich 2011 entschieden der Naša Stranka-Partei beizutreten und versuchen, hier etwas zu verändern."

Von da an war das Leben der Architektin wie eine Achterbahnfahrt. Zuerst nahm sie ihre Aufgaben als Hinterbänklerin wahr, die die lokale Parteistruktur in Sarajevo organisierte. Nachdem sie der Partei einen Erfolg bei den Kommunalwahlen bescherte, wurde Pozder in den Regionalvorstand der Partei berufen, und ein Jahr später wurde sie stellvertretende Vorsitzende des Ortsverbandes. Für Pozder selbst kam das alles sehr überraschend. “Ich fragte mich: “Wie konnte das passieren, was mache ich hier? Ich bin keine Politikerin, ich will keine Politikerin sein.” Aber ich bin geblieben und habe zwei Jahre lang an der Innenpolitik der Partei gearbeitet und die politische Plattform für die Parlamentswahlen 2014 erstellt. Ich kandidierte auch, aber nicht für ein wählbares Amt, denn ich war mir immer noch nicht sicher, ob ich Berufspolitikerin sein wollte. Ich war zufrieden die Art von Person zu sein, die über das schreibt, was sie am besten kann."

Nasiha Pozder
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Wechsel der vorherrschenden Paradigmen

Doch nachdem weiteren Aufstieg innerhalb der Partei und nachdem das, was als Bürgerbewegung begann allmählich zur “wahren” Partei heranwuchs, fanden die entscheidenden Parlamentswahlen 2018 statt und Nasiha Pozder wurde eine der sechsköpfigen starken Vertretung der Naša Stranka-Partei im Abgeordnetenhaus der Föderation. Naša Stranka sorgte für einen Präzedenzfall in einem Land, in dem Frauen weniger als 20 % der Abgeordneten ausmachten. Ihre Fraktion wurde von Frauen im Verhältnis 5 zu 1 dominiert. Insgesamt lag der Anteil der gewählten weiblichen Kandidaten bei über 60 %. Und das war nicht alles, was sie von anderen Parteien abhebt. “Wir sind alle ziemlich jung, auch gemischt in Bezug auf die Nationalität - Serben, Bosnier, andere... aber das war nicht die Idee dahinter - es geschah einfach durch unsere Arbeit und der Ideologie, die wir vertreten."

In einem Land, das noch immer nicht die Folgen des Kriegs und der ethnischen Säuberungen der 1990er Jahre überwunden hat, ist das sehr aussagekräftig. Aber es ist auch das Mindeste, was man von einer Bewegung erwarten kann, die von dem preisgekrönten Regisseur Danis Tanovic ins Leben gerufen wurde, der 2001 mit seinem Antikriegsepos “No Man's Land” das Publikum im In- und Ausland begeisterte. Für Pozder war es nur selbstverständlich, dass Intellektuelle und Kulturschaffende beschlossen, sich der Bewegung anzuschließen und die Verantwortung für die Zukunft des Landes in die eigenen Hände zu nehmen – ein eher seltenes Vorgehen für Menschen, die lieber kritisieren. “Intellektuelle wollen nicht in Parteien direkt mitanpacken, sie wollen nur unterstützen oder dich auf Facebook kritisieren, dir deine Fehler vor Augen halten und dich fragen, wie du es überhaupt wagen kannst, mit den alten Sozialisten zu verhandeln...  Aber wenn man sie einlädt mitzumachen, reden sie sich meistens heraus, dass sie keine Zeit haben oder sich nicht die Hände schmutzig machen wollen.“

Nasiha Pozder
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Das Gespenst der Ineffizienz

Nachdem sie es in die Ämter mit der größten politischen Gestaltungsmacht geschafft hatte, wurde Nasiha Pozder mit einer nicht beneidenswerten Realität konfrontiert. “Ich habe gerade einen Kaffee mit meinen Kollegen aus der Fakultät getrunken, und sie sagten, wie entmutigt es sei hier zu leben und die Probleme zu sehen. Und ich sagte: Ja, es ist sogar noch entmutigender, wenn man im Parlament sitzt und nicht viel ändern kann, aber man darf nicht aufgeben“, sagt sie. Ihre Motivation weiterzumachen - zumindest bis zu den nächsten Wahlen - ist die Tatsache, dass die Naša Stranka-Partei wächst und dem Rest des Landes als Beispiel dafür dient, wie Synergien auf lokaler, kantonaler und föderaler Ebene tatsächlich etwas bewirken können.

Gleichzeitig macht sie keinen Hehl daraus, dass sie um die künftige Ausrichtung der wachsenden Partei besorgt ist. “Wir sind uns nicht mehr sicher, ob die meisten unserer Mitglieder unseren Ideen zugetan sind. Vielleicht kommen sie auf uns zu, weil sie in uns einen Hoffnungsträger sehen, und machen sich keine Gedanken über unsere Agenda, über unseren politischen und ideologischen Hintergrund, was für uns wirklich schwer zu verkraften ist. Denn wir wollen wirklich eine progressive, liberale, grüne Partei bleiben”, sagt sie. Zudem muss sie sich auch ihr eigenes persönliches ideologisches Dilemma vor Augen halten, insbesondere wenn man einer liberalen Partei angehört, die zudem seit fünf Jahren ALDE-Mitglied ist, und gleichzeitig grüne Überzeugungen hat. Sie weiß jedoch, dass auf dem Balkan Haar- und Parteispalterei eher kontraproduktiv wirken, wenn man eine ideologische Reinheit erreichen will. “Ich bleibe dem grünen Flügel unserer Partei treu, aber ich identifiziere mich mit einigen ALDE-Parteien wie D66 oder der schwedischen Zentrumspartei, die liberale und ökologische Politik vereinen", sagt sie.

Nasiha Pozder
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Der Geschichte überdrüssig, ungeduldig auf die Zukunft

Für Pozder ist es momentan zweitrangig, sich zu sehr auf die eigenen politischen Überzeugungen zu versteifen, denn sie sieht ihre Aufgabe in der Politik darin, vernünftige Argumente vorzubringen, die sich auf die für ihr Land wichtigen Probleme fokussieren. “Wir haben hier keine Partei, die unserer ähnlich ist - wir haben die Sozialisten, als Produkt der ex-kommunistischen Partei Jugoslawiens, und wir haben die Nationalisten als rechte Partei, die nicht einmal im eigentlichen Sinne als Rechts eingestuft werden können. Sie bewegen sich zwar in der politischen Mitte, aber beschwören oft mit dem Krieg verbundene Emotionen, und sie wissen, wie das dann läuft."

Sie sagt, sie habe es satt, dass sich die politische Debatte im Land nur um Konflikte dreht - entweder um den jüngsten oder um den Zweiten Weltkrieg -, anstatt wichtige Fragen zu lösen, wie die nach der ethnischen Vertretung. “Wir halten die Idee des Antifaschismus hoch, aber wir wollen in die Zukunft blicken und Brücken bauen, um jene Gräben zu schließen, die unsere Gesellschaft spalten. Wir versuchen die Verfassung so zu ändern, dass alle Menschen das Recht haben, gewählt zu werden, und viel wichtiger, wir setzten uns für Gleichberechtigung ein. Unser Präsident ist zum Beispiel serbischstämmig - er kann nicht zum Präsidenten des Landes gewählt werden, weil er ein Serbe aus der Föderation Bosnien und Herzegowina und nicht aus der Republika Srpska ist.” Pozder sagt, ihre Partei habe bereits versucht, eine Verfassungsänderung durchzusetzen, die dieses diskriminierende Gesetz im Bundesparlament abschaffen soll. Sie werde es auch weiterhin tun, wenn sie eines Tages an der Macht sind. Tatsächlich haben sie bereits eine ähnliche Änderung verabschiedet, die es Menschen ohne Zugehörigkeit zu einer der großen ethnischen Gruppen in Sarajewo erlaubt, Präsident des Kantons zu werden.

Nasiha Pozder
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Ein weiteres wichtiges Thema, das die Naša Stranka-Partei vorantreiben möchte, ist der Abbau von unnötigen und sich überschneidenden Bereichen der Verwaltung des Landes, die die ohnehin knappen öffentlichen Ressourcen aufbrauchen. “Die Politik ist eine wirklich gute “Fabrik”, in der man einen Job finden kann. Jeder vierte Einwohner von Bosnien und Herzegowina arbeitet im öffentlichen Sektor und in der Verwaltung. Es ist ein gewaltiges System, in dem man Geld verdienen kann, ohne viel, oder überhaupt nicht arbeiten zu müssen. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, diesen riesigen Apparat in unserem Land abzubauen.”

Dies ist wegen dem relativen Erfolg des Dayton-Abkommens notwendig. Es brachte zwar 1995 den Frieden in dem vom Krieg zerrissenen Land, ist aber trotzdem umstritten. Das Hauptziel der Dayton-Verfassung bestand darin, Frieden und Stabilität zu fördern und das Gleichgewicht zwischen den verfeindeten ethnischen Kriegsparteien in der Föderation herzustellen. Für Pozder ist es jedoch an der Zeit, dass das Abkommen überarbeitet wird. “In den vergangenen 25 Jahren hat sich so ziemlich alles in diesem Land verändert, nur die Verfassung nicht.”

Sie ist der Meinung, dass das Systems derzeit überbesetzt und ineffizient funktioniert und weitgehend Korruption und Bürokratie fördert. “In Dayton haben wir uns darauf geeinigt, dass wir zwei Föderationen und 14 Kantone, die jeweils eigene legislative und exekutive Strukturen haben. Jeder Kanton hat seine eigenen Ministerien. Einer der Kantone hat zum Beispiel nur 23 000 Einwohner, aber dafür 10 Ministerien, eine Versammlung mit 30 Mitgliedern und einen Premierminister - das ist ein richtiger Konzern. Und dieser Kanton überschneidet sich praktisch mit einer Stadt, die fast die gleiche Einwohnerzahl hat, aber sie haben ihre eigene Verwaltung - Bürgermeister, Stadträte... Genau das wollen wir ändern”, sagt sie. Sie träumt von einem “normalen” Bosnien und Herzegowina, das aus geografischen und wirtschaftlichen Gründen in Regionen aufgeteilt ist und nicht nach ethnisch-nationalen Gesichtspunkten.

Nasiha Pozder
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Frau sein macht es noch komplizierter

Zu allem Überfluss muss Pozder auch am eigenen Leib spüren, wie es ist eine Frau in der Politik auf dem Balkan zu sein. Wie alle Female-Forward-Botschafterinnen ist sie dickhäutig und selbstbewusst genug, um die meisten sexistischen und frauenfeindlichen Äußerungen an sich abprallen zu lassen. Dennoch kann sie gut verstehen, dass vielleicht diese Frauenfeindlichkeit der Grund sein könnte, warum Frauen in öffentlichen Ämtern unterrepräsentiert sind. “Als ich noch Aktivistin war, kämpfte ich für ein wichtiges Grundstück in der Stadt Sarajevo und wurde von meinen Gegnern als „scharfzüngig“ attestiert. Es war nicht wichtig, worüber ich sprach, es ging darum, mein Aussehen zu verspotten”, erzählt sie.

Während der ersten Tage im Parlament war für ihre männlichen Kollegen aus anderen Parteien vielmehr ihre Kleidung Gesprächsthema, als das, was sie von der Tribüne zu sagen hatte. “Aber das war nur am Anfang - sehr schnell begann man uns zuzuhören.“ Ein weiterer Ausdruck von beiläufigem Sexismus, an den sie sich erinnert, ist, wie der Parlamentspräsident männliche Abgeordnete mit “Herr” und ihrem Nachnamen, aber Pozder und ihre weiblichen Kolleginnen mit ihrem Vornamen ansprach. Es sagte einfach “Frau Nasiha”. “Entschuldigen Sie, für Sie bin ich nicht Nasiha, ich bin auch Ihre Kollegin, die Abgeordnete Pozder”, widersprach sie ihm.

Für Pozder ist diese Einstellung auf die traditionelle, patriarchale Kultur zurückzuführen, die in der bosnischen Gesellschaft vorherrscht. “Ich hatte das Glück, dass mein Vater nicht so ein Mensch war und mich sogar während des Krieges unterstützte, weil er wusste, worauf ich hinarbeitete. Das ist der eigentliche Grund, warum ich begonnen habe, meine Stimme für die Stellung der Frau in der Gesellschaft zu erheben. Ich hatte verstanden, dass mein Glück nicht jedem vergönnt ist. Meine Position in der Akademie und in der Politik gibt mir nicht nur die Möglichkeit, sondern verpflichtet mich, diese Botschaft zu wiederholen - dass Frauen in der Gesellschaft ihre Stimme erheben müssen."

Nasiha Pozder
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Sie ist sich jedoch sehr wohl bewusst, dass dies eine Mammutsaufgabe ist. Zum einen ist da die patriarchale Kultur, die in den meisten Parteien des Landes vorherrscht und die Umsetzung des bestehenden Quotensystems zur gleichberechtigten Vertretung verhindert. Zum anderen gibt es die Gegenreaktion von konservativen weiblichen Vertretern der traditionellen Parteien, die Pozder an der Vorstellung zweifeln lässt, dass es etwas spezifisch Weibliches an der weiblichen Führung gibt. “Ich denke, dass Frauen sensibler sein können, oft vernünftiger, kompromissbereiter... aber auch das kann man nicht verallgemeinern - ich tue mich schwer damit, mit weiblichen Kollegen aus den rechten Parteien zu sprechen, aber das ist ihre Position in der Partei, die da spricht. Wenn sie einen Auftrag von der Partei bekommen, hört man nicht ihre weibliche Stimme, sondern die Stimme der Partei."

Was Nasiha Pozder, trotzt ineffizient und mangelhaft funktionierendes politischen Systems in Bosnien und Herzegowina, zum Weitermachen motiviert, ist die Hoffnung, dass sie mit ihrer Arbeit für den Aufbau einer besseren Zukunft für ihre Landsleute, auch für ihre Tochter, beiträgt. “Meine Mutter und meine Tochter sind bei mir, wir haben uns entschieden, hier zu bleiben. Ich möchte wirklich nicht meine Zeit damit verlieren, ergebnislos im Parlament fern von ihnen zu sitzen. Wir zeigen in meinem Kanton, dass es jeden Grund zum Optimismus gibt und dass wir noch ein bisschen länger durchhalten können."

 

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