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Gender-Apartheid in Afghanistan
Rechtliche Lücken, Folgen für afghanische Frauen und globale Bedeutung

Die repressive Politik der Taliban seit ihrer Rückkehr an die Macht im August 2021 hat in Afghanistan ein Regime der systematischen geschlechtsspezifischen Ausgrenzung geschaffen,

Die repressive Politik der Taliban seit ihrer Rückkehr an die Macht im August 2021 hat in Afghanistan ein Regime der systematischen geschlechtsspezifischen Ausgrenzung geschaffen.

© picture alliance/dpa/MAXPPP | Antonin Burat / Le Pictorium

Seit August 2021 haben die Taliban in Afghanistan ein extremes und institutionalisiertes System der geschlechtsspezifischen Unterdrückung wiederhergestellt. Frauen und Mädchen wird der Zugang zur Bildung verwehrt, sie werden von den meisten Formen der Erwerbstätigkeit ausgeschlossen, dürfen ohne einen männlichen Vormund nicht reisen und sind vollständig aus dem öffentlichen Leben verbannt worden. Die Beschränkungen erstrecken sich sogar auf öffentliche Räume wie Parks und Fitnessstudios und symbolisieren den gezielten Versuch, Frauen und Mädchen aus dem gesellschaftlichen Gefüge des Landes auszuschließen.

In einem neuen Papier betont Dr. Haroon Mutasem, Professor für internationales Strafrecht an der American University of Afghanistan und Research Fellow an der Humboldt-Universität zu Berlin, dass es sich hierbei nicht um vereinzelte Maßnahmen handelt, sondern um ein kohärentes System der Herrschaft, das darauf abzielt, Frauen aufgrund ihres Geschlechts zu unterwerfen. Dies hat dazu geführt, dass UN-Expertinnen und -Experten, Menschenrechtsorganisationen und afghanische Frauenrechtsverteidigerinnen die Situation als Gender-Apartheid bezeichnen.

Im Gegensatz zur Rassentrennung (racial apartheid), die im Völkerrecht klar definiert und verboten ist, bleibt der Begriff Gender-Apartheid jedoch außerhalb des Geltungsbereichs bestehender Rechtsrahmen. Dieses Fehlen einer rechtlichen Verankerung schafft eine gefährliche Lücke: Während die moralische Empörung eindeutig ist, sind die juristischen Instrumente, um Täter zur Rechenschaft zu ziehen, unvollständig – afghanische Frauen sind so zwischen gelebter Unterdrückung und rechtlicher Unsichtbarkeit gefangen.

Von der Rechtslücke zur Kodifizierung von Gender-Apartheid

Nach geltendem Völkerrecht kriminalisiert das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) Apartheid nur in ihrer rassistischen Form. Die Regelung wurde als Reaktion auf das Apartheidregime in Südafrika geschaffen und hatte den Aspekt geschlechtlicher Trennung nicht vor Augen. Auch Geschlechtsspezifische Verfolgung („gender persecution“) ist ein rechtlich anerkannter Straftatbestand, erfasst jedoch nicht vollständig die strukturelle und systematische Natur der in Afghanistan praktizierten Gender-Apartheid. Auch das Apartheid-Übereinkommen von 1973 beschränkt seinen Anwendungsbereich auf rassische Herrschaft und ignoriert andere Formen institutionalisierter Segregation.

Diese rechtliche Lücke befeuert eine kontroverse Debatte über die Aufnahme des geschlechtlichen Aspekts von Apartheid in geltendes Recht. Gegner einer Kodifizierung von Gender-Apartheid argumentieren, das Völkerrecht biete bereits Handlungsoptionen – insbesondere durch das Verbrechen der geschlechtsspezifischen Verfolgung – sofern diese wirksam angewandt würden. Das Problem liege in politischem Willen und Umsetzung, nicht im Fehlen rechtlicher Definitionen. Befürworter hingegen betonen, dass eine Kodifizierung eine eigenständige Rechtskategorie schaffen würde. Ein ähnliches Nebeneinander wie es sich aus Gender-Apartheid und gender persecution ergeben würde, kennt das internationale Recht bereits von rassischer Verfolgung und rassistischer Apartheid. Eine Kodifizierung würde auch moralische Klarheit schaffen, die Rechenschaftspflichten stärken und eine konsistente internationale Antwort auf systematische geschlechtsspezifische Unterdrückung befördern.

Der Autor skizziert mehrere mögliche Wege zu einer Kodifizierung:

  • Änderung des Römischen Statuts, um Gender-Apartheid ausdrücklich aufzunehmen, was auf große politische Widerstände stoßen könnte.
  • Erweiterung der Entwürfe für ein Übereinkommen über Verbrechen gegen die Menschlichkeit, um Gender-Apartheid als eigenständiges Verbrechen zu kodifizieren, was jedoch Jahre dauern könnte.
  • Verabschiedung einer Resolution der UN-Generalversammlung, um politische Anerkennung und normative Dynamik zu schaffen, die nationale Strafverfolgung auf Grundlage des Weltrechtsprinzips anregen könnte.

Parallel können bestehende rechtliche Mechanismen genutzt werden:

  • Die Afghanistan-Ermittlungen des IStGH könnten geschlechtsspezifische Verfolgung so auslegen, dass auch Gender-Apartheid-ähnliche Handlungen erfasst werden.
  • Der Internationale Gerichtshof (IGH) könnte zudem einen Fall unter dem Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) verhandeln, den mehrere Staaten gegen Afghanistan bereits skizziert haben – mit potenziell bindenden Entscheidungen.
  • Nationale Gerichte in Ländern wie Deutschland oder den Niederlanden, die das Weltrechtsprinzip anwenden, könnten Taliban-Funktionäre im Exil strafrechtlich verfolgen.

Warum der Fall Afghanistans weltweit relevant ist

Die Gender-Apartheid der Taliban hat weitreichende Folgen über Afghanistan hinaus. Wird ein solches Regime ohne Konsequenzen geduldet, untergräbt dies die Universalität der Menschen- und Frauenrechtsnormen und signalisiert, dass systematische geschlechtsspezifische Unterdrückung aus geopolitischem Kalkül hingenommen werden kann.

Die Missachtung dieser Normen ermutigt auch andere autoritäre Regime und extremistische Bewegungen. Bereits heute übernehmen Gruppen wie die Houthis im Jemen oder Boko Haram in Nigeria ähnliche Restriktionen nach Taliban-Vorbild. In der Diplomatie trägt jede Form von Anerkennung oder Zusammenarbeit – etwa Russlands Akzeptanz der Taliban-Diplomaten – zur Normalisierung des Regimes bei und schwächt die abschreckende Wirkung des Völkerrechts.

Die Auswirkungen sind auch humanitär und politisch gravierend. Geschlechtsspezifische Unterdrückung treibt afghanische Frauen und ihre Familien ins Ausland und zwingt sie, Asyl zu suchen. Auf globaler Ebene zeigt die schnelle Rückabwicklung der Frauenrechte in Afghanistan von 2001–2021 bis heute, wie fragil Fortschritte in der Geschlechtergleichstellung sind. Bleibt dies unbeachtet, könnte Afghanistan zu einem Präzedenzfall werden, der systematische Geschlechtertrennung als akzeptabel erscheinen lässt – mit der Folge, dass jahrzehntelange Fortschritte unter Instrumenten wie CEDAW und den Zielen für nachhaltige Entwicklung geschwächt würden.

Empfehlungen des Autors

Das Papier kommt zu dem Schluss, dass die internationale Gemeinschaft dringend Gender-Apartheid als Verbrechen im Völkerrecht anerkennen muss – kombiniert mit sofortiger humanitärer und bildungspolitischer Unterstützung für afghanische Frauen, der Stärkung von Überwachungs- und Berichtssystemen, gezieltem politischem und wirtschaftlichem Druck auf die Taliban sowie der Sicherstellung, dass die Stimmen afghanischer Frauen im internationalen Entscheidungsprozess gehört werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Debatte über eine Kodifizierung Zeit in Anspruch nehmen kann, die internationale Gemeinschaft jedoch nicht so lange zusehen darf, wie Frauen und Mädchen in Afghanistan weiterhin faktisch unter Hausarrest leben.