Türkiye
Istanbul am Scheideweg von Krise und Gespräch

Mitte Mai ist Istanbul das diplomatische Zentrum der Welt. Von lang erwarteten Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine bis hin zu Nukleargesprächen zwischen dem Iran und europäischen Staaten – die Stadt am Bosporus hat sich zum pulsierenden Zentrum der globalen Diplomatie entwickelt. Bereits vor wenigen Wochen war Istanbul Schauplatz eines seltenen diplomatischen Treffens zwischen den Vereinigten Staaten und Russland, das der Wiederaufnahme konsularischer Beziehungen diente. In einer Zeit, in der viele globale Kanäle durch Misstrauen blockiert sind, hält Istanbul seine Türen weit offen.
Inmitten zunehmender Polarisierung Unterwanderung der regelbasierten Ordnung und einer globalen Krise, in der das Vertrauen in Institutionen zunehmend schwindet, setzt Istanbuls diplomatische Offensive ein starkes Gegennarrativ. Sie erinnert uns daran, wofür diese Stadt schon immer stand: ein Ort der Begegnung, der Widersprüche und der Verbindungen – ein Ort, an dem Kulturen koexistierten und politische Gegner, damals wie heute, einander gegenübersaßen.
Von Getreideabkommen zu Friedensgesprächen
Seit Beginn der Woche halten internationale Beobachter den Atem an: Wird Istanbul tatsächlich den ersten direkten Kontakt zwischen ukrainischen und russischen Vertretern seit 2022 ermöglichen? Sogar Präsident Donald Trump, der derzeit durch die Golfstaaten reist, hatte zwischenzeitlich signalisiert, dass er in die Türkei reisen könnte, sollte ein Gespräch zwischen Putin und Selenskyj zustande kommen. Während zunächst über eine mögliche Teilnahme sowohl von Präsident Wladimir Putin als auch von US-Präsident Donald Trump spekuliert wurde, wird nun erwartet, dass keiner von beiden anwesend sein wird. US-Außenminister Marco Rubio hat seine Teilnahme hingegen bestätigt.
Diese Gespräche stehen in einer diplomatischen Tradition: Bereits 2022 war Istanbul Gastgeberin der Schwarzmeer-Getreideinitiative sowie früherer Verhandlungsrunden zwischen Russland und der Ukraine. Sie bleibt einer der wenigen Orte, die sowohl in Kyjiw als auch in Moskau als akzeptabel gelten. Selbst wenn die Gespräche scheitern sollten, hat das Zusammentreffen in Istanbul symbolisches Gewicht: Es ist weiterhin möglich, miteinander zu reden.
Nur einen Tag später, am 16. Mai, werden sich iranische und europäische Vertreter ebenfalls in Istanbul treffen, um die Zukunft des Atomabkommens von 2015 zu beraten – ein diplomatisch hochbrisantes Ereignis angesichts der zunehmenden regionalen Spannungen, der atomaren Konfrontation zwischen Indien und Pakistan sowie einer möglichen neuen Verhandlungsrunde zwischen den USA und dem Iran.
Die Suche nach Dialog endet hier nicht. Allein in dieser Woche entwickeln sich mehrere kritische Konfliktherde gleichzeitig weiter – von der erneuten Eskalation zwischen Indien und Pakistan nach den jüngsten Entwicklungen in Kaschmir bis hin zu fragilen Waffenruhen in Teilen Afrikas. Wir leben eindeutig in einem Zeitalter sich überlappender, gleichzeitiger Krisen – in dem jede Gelegenheit, miteinander zu sprechen, sich zu begegnen oder zu deeskalieren, mehr zählt denn je.
Die geopolitische Rolle der Türkei: Pragmatismus in einer fragmentierten Weltordnung
Dass die Türkei Akteure mit konträren Weltanschauungen an einen Tisch bringt, ist kein Zufall. Es ist das Ergebnis dessen, was man als „kontrollierten Pragmatismus“ bezeichnen kann. Die Türkei versteht sich längst nicht mehr als fest verankert in einem Block. Die globale Ordnung, die einst auf transatlantischem Konsens basierte, zerfällt in ihre Einzelteile Sicherheit, Technologie, Handel und Migration. Die Türkei reagiert darauf nicht mehr als bloßer Verbündeter, sondern positioniert sich zunehmend als autonome Mittelmacht – als Scharnier zwischen Ost und West.
Warum das für Deutschland und Europa relevant ist
Für Deutschland und die Europäische Union sind die Gespräche in Istanbul mehr als ein regionales Ereignis. Die Ergebnisse – ob in Bezug auf die Ukraine, Syrien oder das iranische Atomprogramm – werden direkte Auswirkungen auf europäische Sicherheitsfragen, Migrationsbewegungen und Energieversorgung haben.
Aber noch wichtiger ist der strukturelle Kontext: Europa selbst ist im Wandel. Rechtspopulistische Parteien gewinnen an Einfluss, die Erweiterungsmüdigkeit hält an, und die EU-Beitrittsperspektive der Türkei wird kaum noch im Wertekanon, sondern primär sicherheitspolitisch und transaktional verhandelt. Die Türkei ist längst nicht mehr nur ein Beitrittskandidat. Sie ist ein strategischer Gesprächspartner – mal Partnerin, mal Kritikerin und Doch sie ist stets ein wesentlicher Teil des diplomatischen Gesamtbildes.
Wir leben in einer Ära permanenter Krisen – aber Istanbul widerspricht der dominierenden Stimmung. Die Stadt sendet eine andere Botschaft: In einer Welt, in der Neutralität selten und ideologische Lager dominierend sind, bleibt die Fähigkeit der Türkei – und insbesondere Istanbuls – mit allen Seiten zu sprechen, ein geopolitischer Vorteil.