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PISA-Studie
Mittelmäßige Lesekompetenz als Alarmsignal für die Demokratie

Warum sich an der Lesekompetenz die Zukunft der Demokratie entscheidet
Grundschüler arbeiten in der Grundschule Offenstetten mit einem Tablet.
Grundschüler arbeiten in der Grundschule Offenstetten mit einem Tablet. © picture alliance / Armin Weigel/dpa | Armin Weige

Am heutigen Dienstag wurde die Sonderauswertung der OECD „Lesen im 21. Jahrhundert“ vorgestellt. Basierend auf der PISA-Studie 2018 haben der OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher und sein Team eine umfassende Analyse der Lese- und Schreibkompetenzen von 15-Jährigen vorgenommen. Die Ergebnisse sind besorgniserregend, denn es zeigt sich, dass weniger als die Hälfte aller getesteten Schülerinnen und Schüler in Deutschland Fakten von Meinungen unterscheiden kann. Außerdem lässt sich beobachten, dass die Lesefreude in Deutschland geradezu eingebrochen und die soziale Herkunft nach wie vor einen großen Einfluss auf die Kompetenzentwicklung hat. Zusammengenommen ergibt sich ein düsteres Bild für die Zukunft der Demokratie, denn Lese- und Schreibkompetenz sind die entscheidende Voraussetzung dafür, dass aus Kindern und Jugendlichen zu mündigen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern werden. Die sichtbare soziale Spaltung und die Unfähigkeit erheblicher Teile der Schülerschaft, zwischen Fakten, Meinungen und Desinformation zu unterscheiden, muss ein Alarmsignal sein. Es reicht dabei nicht, dass Bildungsministerin Anja Karliczek den „pädagogisch sinnvollen Einsatz digitaler Medien" als Ziel vorgibt – nicht nur, weil dieses Ziel alles andere als neu ist, sondern weil diese Sicht das Wesen der Herausforderung verkennt. Schule muss nicht einfach nur Wege zum „digitalen Lesen“ aufzeigen, sondern die Schülerinnen und Schüler befähigen, sich in einer Kultur der Digitalität zurechtzufinden.

Die Ergebnisse im Detail

Wenn es um digitale Lese- und Schreibkompetenz geht, seien deutsche Schülerinnen und Schüler bestenfalls Mittelmaß, so die Bildungsforscherinnen und Bildungsforscher. Bei rund 21% würde noch nicht einmal das Mindestniveau erreicht, welches „für ein selbstbestimmtes Leben und die Teilhabe an der Gesellschaft“ notwendig sei. Dieser Befund geht auf die umfangreiche Untersuchung der Ergebnisse der PISA-Studie 2018 zurück, in der konkrete Testaufgaben, beispielsweise zum Umgang mit Phishing-E-Mails, mit Befragungen zum Kompetenzerwerb ergänzt wurden. Zusammengenommen zeige sich, dass eine „flächendeckende Vermittlung digitaler Kompetenzen“ in den Schulen nicht stattfinden würde und zudem „ein deutlicher Zusammenhang“ zwischen dem sozioökonomischen Hintergrund der Schülerinnen und Schüler und den jeweiligen Möglichkeiten zum Erwerb der digitalen Lesekompetenzen bestünde. Auch die geschlechtsspezifischen Unterschiede seien erheblich. Zwischen 2015 und 2018 erhöhte sich der Leistungsabstand zwischen Jungen und Mädchen im Bereich der Lesekompetenz sogar von 21 auf 26 Punkten. Die Coronakrise, die in den Zahlen noch nicht berücksichtigt wurde, dürfte diese Entwicklung sogar eher noch verstärkt haben.

Digital Literacy statt Wischkompetenz

Bildungspolitischen Sprengstoff enthalten zudem die Beobachtungen zur „wachsenden Kluft bei kulturellen Ressourcen“:während bei sozioökonomisch begünstigten Schülerinnen und Schülern die Zahl der Bücher in den heimischen Bücherregalen konstant geblieben ist, habe sie sich bei denjenigen, die aus sozioökonomisch benachteiligten Familien stammen, fast halbiert. Dies ist schon allein deshalb besorgniserregend, da die Zahl der Bücher zuhause nach wie vor der beste Prädiktor für den Bildungserfolg von jungen Menschen darstellt. Hinzu kommt allerdings, dass die digitalen Lese- und Schreibkompetenzen in erheblichem Maße mit den „analogen“ Fähigkeiten zusammenhängen. Für viel Diskussionsstoff dürfte vor allem eine Beobachtung der OECD-Bildungsexperten sorgen: die schulische Nutzung von digitalen Endgeräten – zum Beispiel das Erledigen von Hausaufgaben am Computer oder auch das Abtauchen in virtuelle Simulationen – scheint sogar negativ mit den Lesefähigkeiten zu korrelieren. Stattdessen zeigt sich, dass die Leistungen im Bereich Lesekompetenz steigen, wenn Schülerinnen und Schüler häufiger Bücher im Printformat lesen (S. 14). Auch wenn in den vergangenen Monaten sicherlich einige Fortschritte in der digitalgestützten Pädagogik gemacht worden sind, so zeigt sich doch, dass es für die Entwicklung von digitaler Lese- und Schreibkompetenz (neudeutsch: digital literacy) nicht ausreicht, Bücher einzuscannen und Endgeräte bereitzustellen. Vielmehr geht es um die Modernisierung der Pädagogik und der Schulen selbst, indem analoge und digitale Lern- und Lehrformate sinnvoll miteinander verzahnt werden. Digital literacy ist keine „Wischkompetenz“: Freude am Lesen guter Bücher ist ein wichtiger Schlüssel zur Herausbildung digitaler Mündigkeit. Denn dabei steht nicht die Bedienung von Apps, sondern der sinnentnehmende Umgang mit Texten im Vordergrund.

Bollwerke gegen Tyrannei

Bereits zu Anfang der Studienvorstellung betonte Andreas Schleicher, wie sehr sich die Welt geändert habe: „Lesekompetenz ist nicht mehr die Extraktion, sondern die Konstruktion von Wissen.“ Damit greift er das Argument der Studie auf, dass Lesekompetenz („literacy”) im 20. Jahrhundert nicht mehr das Extrahieren und Verarbeiten von vorgekauter Informationen, z.B. in Enzyklopädien, sei, sondern das „Konstruieren und Validieren von Wissen.”[1] Gerade weil Suchmaschinen Millionen von Ergebnissen ausspucken würden, müssten die Schülerinnen und Schüler lernen, diese Datenmenge einzuordnen, Fakten und Meinungen zu unterscheiden, und dabei „Ambiguität zu navigieren.“ Ohne Frage stehen Schülerinnen und Schüler heutzutage vor besonderen Herausforderungen: Wie gehe ich mit Phishing E-Mails um? Welche Daten von mir selbst gebe ich in sozialen Netzwerken preis? Und wie gehe ich mit Desinformation um? Einen Schritt weiter können Lehrkräfte gehen, wenn sie gezielt über Wege nachdenken, „Schreibprozesse unter den Bedingungen von elektronischen Endgeräten, Textverarbeitungssoftware und Netzkommunikation“ zu vermitteln, wie es Philippe Wampfler in seinem lesenswerten Text zum „digitalen Schreiben“ formuliert.

Die digitale Revolution hat unsere Sprachkultur so stark verändert, wie es zuletzt die Erfindung des Buchdrucks getan hat. Auf diese Revolution kann man nicht damit reagieren, indem man den Overheadprojektor durch eingescannte Arbeitsblätter ersetzt. Gleichzeitig wäre es ein Fehler, diese Veränderung so zu verstehen, als würde analoge nun einfach durch elektronische Schriftlichkeit abgelöst. Gerade die Tatsache, dass herkömmliche Bücher ein wichtiges Instrument zur Förderung von (digitaler) Lesekompetenz sind, zeigt, dass man die neuen Herausforderungen der digitalen Zukunft durchaus auch in einen größeren, historischen Zusammenhang stellen sollte. Die Frage, wie Wissen konstruiert und validiert werden kann, nimmt im Zeitalter der Algorithmen, Trollfabriken und deep fakes sicherlich ganz neue Formen an. Gleichzeitig zeigt ein Blick in die wunderbare Ideengeschichte der Fußnote von Anthony Grafton, dass der technische Fortschritt die Konstruktion und Validierung von Wissen die menschliche Geistesgeschichte immer wieder entscheidend geprägt hat. Die Fußnote, deren Entwicklung maßgeblich von Innovationen im Buchdruck abhing, wird von Grafton als heuristische Sonde verwendet, um die Geschichte der Geisteswissenschaft als wissenschaftliche Disziplin greifbar zu machen. Die Frage, wie Informationen ausgewählt, validiert und zusammengestellt werden, um Erkenntnisfortschritt zu ermöglichen, gehört daher nicht allein zur Kultur der Digitalität, sondern zur Kultur überhaupt. Dass die Fußnote, wie Grafton es ausdrückt, ein „Bollwerk gegen die Tyrannei“ sei, ist keine schöngeistige Spinnerei, sondern fasst die Einsicht zusammen, dass der ordnende, schätzende und validierende Umgang mit Information die Grundlage einer freien Gesellschaft ist.

Lesekompetenz ist also eine Bedingung für Freiheit. Die in der OECD-Sonderauswertung sichtbar gewordenen Schwächen des deutschen Bildungssystems müssen dringend angegangen werden. Das gute Bücher also auch im 21. Jahrhundert Lesekompetenz entscheidend fördern, mag dabei nicht überraschen. Wer sich durch die vielfältigen Bedeutungsebenen von Umberto Ecos Der Name der Rose liest, der lernt gleichzeitig, sich in der Text- und Bilderflut des Internets zurechtzufinden. Wer könnte denn „dank memes“ verständlicher machen, als ein Professor für Semiotik? Und wie stünde es um die Lesekompetenz der Schülerinnen und Schüler, wenn sie Ecos Ratschlag an seinen Enkel beherzigen würden: „Im Internet kannst du nicht nur mit deinen Freunden chatten, sondern (sozusagen) auch mit der Geschichte der Welt.“

[1] “Literacy in the 20th century was about extracting and processing pre-coded and – for school students – usually carefully curated information; in the 21st century, it is about constructing and validating knowledge.”