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UNGARN
Rechtsstaatlichkeit an EU-Subventionen knüpfen?

Beispiel Ungarns
Hungary Flag
© picture alliance / Wolfram Steinberg

Am 30. September 2020 veröffentlichte die Europäische Kommission ihren Bericht über die Rechtsstaatlichkeit, der von dem Stand der Justiz, Korruption, der Medien und der anderen demokratischen Institutionen in den EU-Ländern berichtete. Michal Šimečka von der Fraktion Renew Europe bezeichnete den Bericht als wichtig, jedoch nicht hinreichend: ein Mechanismus, der die Rechtsstaatlichkeit durchsetzen würde, sei nötig.

Genau darüber wird schon längst in dem EU-Parlament und jetzt auch im Rat der Europäischen Union diskutiert. Die europäischen Abgeordneten von verschiedenen Fraktionen schlugen vor, die EU-Subventionen an die Bedingung des funktionierenden Rechtstaates zu knüpfen: falls ein EU-Mitgliedsstaat gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstößt, sollten seine Subventionen gekürzt oder ganz abgeschafft werden. Unter den rechtsstaatlichen Prinzipien versteht man dabei Medienfreiheit und -pluralismus, Unabhängigkeit des Justizsystems, Korruptionsbekämpfung und Gewaltenteilung. Das schwächste Zeugnis in dem erwähnten Bericht bekamen Ungarn und Polen. Gerade diese Staaten waren gleichzeitig die größten Gegner der vorgeschlagenen Maßnahmen. Beide Staaten sogar drohten, das Europäische Corona-Hilfsprogramm zu blockieren, sollte der angekündigte Rechtsstaatlichkeitsmechanismus eingeführt werden.

 

Wer profitiert vom EU-Geld in Ungarn?

Es ist eine Ironie, dass gerade der ungarische Regierungschef Orbán so kräftig gegen EU auftritt. Ungarn gehört nämlich zu den Hauptgewinnern bei den Subventionen aus der EU. Orbán selbst schaffe es in der Regel, EU-Gelder direkt an seine Freunde und Familie weiterzuleiten. Von den EU-Subventionen profitierte zum Beispiel Orbáns Schwiegersohn und Unternehmer István Tiborcz, dessen Firma über 35,5 Millionen Euro an EU-Mitteln erwarb. Während Orbán und seine Regierungspartei Fidesz europäische Solidarität ausnutzen, kann keine Rede von einer Solidarität mit der EU seitens Orbán sein.

Orbáns Verhalten ist nichts Neues unter der Sonne. Als junger Student mit liberaler Weltanschauung hat er Stipendium von der Stiftung des aus Ungarn stammenden US-Milliardärs George Soros erhalten. Soros wurde später zum Sündenbock der ungarischen Regierung und die Hetzkampagne, die Fidesz gegen ihn im Jahr 2019 führte, stellt ein weiteres Beispiel der angespannten Beziehung zwischen Ungarn und den Europäischen Union dar. Die Mittel, die die Regierung in der Kampagne eingesetzt hat, waren u.a. Plakate mit George Soros und dem ehemaligen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker und waren explizit gegen Brüssel gerichtet. Die EU wurde beschuldigt, dass sie die Annahme von Flüchtlingen unterstützt und die Souveränität der Mitgliedstaaten schwächt. Wichtig zu erwähnen ist, dass die Kampagne mit Steuergeldern finanziert wurde.

 

Die EU ist mehr als eine Wirtschaftsunion

Europäische Union ist nicht nur eine Wirtschaftsunion, sondern auch eine Union, die auf bestimmten demokratischen Werten steht. Jeder Staat, der  EU beitreten will, muss einige demokratische Grundsätze erfüllen. Aber was passiert, wenn der Staat schon ein Teil der EU ist und seine Regierung plötzlich gegen diese Werte verstößt? Ungarn ist ohne Zweifel einer dieser Fälle.

Auf diese Tatsache machte die Kommissarin für Werte und Transparenz, Věra Jourová, im Herbst letzten Jahres aufmerksam. Sie beschrieb das ungarische politische System als „kranke Demokratie“ und bezeichnete die ungarischen Medien als kaum kritisch gegenüber der Regierung. Orbán reagierte auf die Aussage von Jourová mit einem Brief, in dem er Rücktritt der Kommissarin forderte, weil sie „Ungarn und die ungarischen Menschen beleidigte.“

Die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen unterstützte Jourová. Jourová hatte nämlich Recht. Ende Juli letzten Jahres protestierten Tausende Ungarn gegen die Einflussnahme der Regierung auf die Medien, nachdem sich ein regierungsnaher Unternehmer in die Geschäfte des größten, unabhängigen Nachrichtenportals Index.hu eingekauft hatte.

Die EU soll ein Garant der Demokratie und Freiheit sein. Wenn ein Mitgliedstaat die Rechtsstaatlichkeit verletzt, soll die EU eingreifen. Alle EU-Mitgliedstaaten sind ein Teil einer Gemeinschaft, auf die sich die Bürger verlassen können müssen, falls ihre Rechte seitens des Staates verletzt werden. Um dieses Ideal zu bewahren, ist es wichtig, dass die Auszahlung der EU-Gelder an die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeitsprinzipien gekoppelt wird.

 

Wahrung der Rechtstaatlichkeit in der EU

Zurzeit existieren einige Instrumente, die die Einhaltung von Bürgerrechten in der EU gewährleisten. Die Europäische Kommission kann gegen einen Staat ein Regelverstoßverfahren einleiten. Dabei kann der Europäische Gerichtshof Geldsanktionen verordnen, einige Mitgliedsrechte des Staates entnehmen oder ein Gesetz als gegen das EU-Recht verstoßend bezeichnen und aufheben.

Das ist aber eine ex-post Maßnahme, die sich manchmal als wenig effizient erwiesen hat. So urteilte der Europäische Gerichtshof Anfang Oktober 2020, dass das umstrittene ungarische Hochschulgesetz, dessentwegen die Zentraleuropäische Universität (CEU) Budapest verlassen und nach Wien umziehen musste, EU-Grundrechte verletze. Jetzt darf die Universität nach Budapest zurückziehen, was aber viel Geld kostet und viele logistische und andere Unannehmlichkeiten verursacht.

Ein anderes Mittel, mit dem die EU die Rechtsstaatlichkeit beschützen kann, ist OLAF (Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung). So übergab OLAF den vorher erwähnten Fall des Orbáns Schwiegersohnes zurück an die ungarische Staatsanwaltschaft, die aber den Schwiegersohn freisetzte. In diesem Fall könnte die EU selbst keine Rechtstaatlichkeit garantieren, weil Ungarn das letzte Wort hatte.

Deshalb braucht die EU einen Mechanismus, der automatisch und präventiv die Rechtsstaatlichkeit garantiert. Die EU-Fonds dürfen nicht für die Aushöhlung der Demokratie, Meinungsfreiheit oder Unabhängigkeit der Justiz und Politik dienen.

Diesen Ansatz sollte man eigentlich auch von der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europäischen Parlament erwarten können, wenn sie über die Zugehörigkeit von Fidesz zu ihrer Fraktion debattiert. Dank des Einverständnisses der EVP gewinnt Fidesz Legitimität für ihr Regieren in Ungarn. Es scheint, als ob die EVP offen keinen Konflikt mit Fidesz anfangen möchte, damit sie die größte Fraktion im Europaparlament bleibt.

Dieses Szenario könnte sich auch auf der EU-Ebene abspielen. Solange die EU  vorgibt, dass es keine Konflikte zwischen EU und Ungarn gebe, wird die ungarische Regierung weiterhin unbehindert gegen die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verstoßen. Der vorgeschlagene Mechanismus bietet ein weiteres Mittel dafür, dass man in Ungarn auf EU-Werte achtet. Das ist nicht nur im Interesse der EU, sondern auch der ungarischen Bürger.

Kompromiss im Budgetstreit: eine Win-Win-Situation?Am 10. Dezember 2020 wurde das langfristige EU-Budget und damit auch Corona-Hilfspaket zusammen mit dem Mechanismus gebilligt.

Vorher haben Polen mit Ungarn das Budget mit Veto blockiert. Beide Staaten wollten dadurch durchsetzen, dass EU auf den Rechtsstaatsmechanismus verzichtet. Erst wochenlange Diskussionen unter den EU-Regierungschefs haben zu einem Kompromiss geführt: der Rechtsstaatsmechanismus kommt erst, wenn der Europäische Gerichtshof (EuGH) über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens entscheidet. Der EuGH hat dabei zweijährige Frist, um das Urteil auszusprechen.

Beide Seiten des Konfliktes erklärten Sieg. Die EU hat  dank der Durchsetzung des Rechtsstaatsmechanismus ihre Identität bewahrt, das Haushaltsprovisorium vermieden und die sonst fehlende milliardenschweren Corona-Hilfen für alle Staaten gebilligt. Ungarn und Polen haben die Zuversicht eines Gerichtsverfahrens beim EuGH erlangt, das die Kürzung der EU-Gelder für Polen und Ungarn aufheben würde.

 

Stellt aber wirklich dieser Kompromiss eine Win-win-Situation dar?

Es hängt davon ab, von wem man spricht. Aus der Sicht der polnischen und ungarischen Bürger kann man das eher als Verlust betrachten. Zum Beispiel die Abgeordnete und Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments Katarina Barley meint, dass Orbán mit dem Kompromiss etwas Zeit erkauft hat, um bis zu den nächsten ungarischen Parlamentswahlen (2022) weiter die EU Gelder zum eigenen Nutzen zu verwenden. Er könnte sich also mit den EU Subventionen weitere Amtszeit sichern. Die Subventionen können also ungestört weiter benutzt werden für die diskriminierenden politischen Aktivitäten polnischer und ungarischer Regierung.

Die EU-Komissarin für Werte und Transparenz Věra Jourová sieht die Situation eher positiv an. Sie glaubt, dass das EuGH-Verfahren binnen weniger Monate ein Ergebnis haben wird. Das Parlament selbst kann von dem EuGH die Beschleunigung ganzes Prozesses verlangen.

Der „Sieg“ beider Staaten hat auch ihrem Image geschadet. Nach dem Vorsitzenden der größten polnischen Oppositionspartei „Platforma Obywatelska“ Borys Budka hat das Ergebnis nur der Unmut gegenüber Polen in Europa verstärkt.

Aus der Sicht der Regierungsanhänger in Ungarn und Polen stellt der Kompromiss einen Sieg in dem ideologischen Kampf dar.

In einem nächsten Schritt wollen die Regierungen Polens und Ungarn gegen die EU-VBerordnung beim EuGH klagen. Der polnische Ministerpräsiden Mateusz Morawiecki – ein Jurist – begründet diese Klage mit der Behauptung, dass der Mechanismus den Artikel 7 umgehen will und damit gegen das EU-Recht verstößt. Zusammen mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Orbán bezeichnet er den Artikel 7 für ausreichend, um potenzielle Rechtsstaatsverstöße zu bestrafen.

Der Artikel 7 kann bis zur Entziehung einiger Rechte von einem Mitgliedstaat führen. Das im Fall, wo der Staat gegen die EU-Grundwerte – wie Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat, Minderheitsrechte usw. – verstößt, und zwar im ernsthaften und dauerhaften Ausmaß. So kann der Staat für bestimmte Zeit die Stimmrechte in dem Europäischen Rat, wo sich die Hauptvertreter der Mitgliedstaaten treffen, verlieren.

Welche Begründung wird die Klage beinhalten? Werden die Argumente relevant? Steht der gebilligte Mechanismus wirklich im Konflikt zu Artikel 7 des EU-Vertrags? Tatsächlich könnte eine solche Klage schwierige juristische Fragen aufwerfen.  Die EU wird nicht umgehen können, das Thema der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit weiter offensiv auf der Agenda zu halten.

 

Daniela Matoušová ist Praktikantin im Projektbüro Mitteleuropa und Baltische Staaten. Sie studiert Sozialpolitik an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Karls-Universität in Prag.