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Niederlande
Niederländische Regierungskrise – ein Zugunglück in Zeitlupe

GEERT WILDERS addresses a plenary session

June 4, 2025, The Hague, South Holland, Netherlands: Dutch far-right politician and PVV party leader GEERT WILDERS addresses a plenary session of the Dutch House of Representatives.

© picture alliance / ZUMAPRESS.com | James Petermeier

Weniger als ein Jahr nach ihrer Bildung ist die niederländische Regierung am Dienstag zusammengebrochen, nachdem der Vorsitzende der rechtsextremen Partei für die Freiheit (PVV), Geert Wilders, seine Partei und alle seine Minister aus der Regierungskoalition zurückgezogen hatte. Durch diesen Rückzug verliert die Regierung ihre Mehrheit, was Premierminister Dick Schoof dazu veranlasste, zurückzutreten und sein gesamtes Kabinett aufzulösen.

Die Koalition war von Anfang an instabil und taumelte von einer Krise in die nächste. Da drei der vier Koalitionsparteien neu in der Regierung waren, der parteilose Beamte Dick Schoof als Ministerpräsident fungierte und die Koalitionsvereinbarung am besten als ein Sammelsurium von Wahlversprechen beschrieben werden kann, war allgemein zu erwarten, dass das Kabinett nicht lange Bestand haben würde. Dies bewahrheitete sich, denn tatsächlich war die Koalition von dem ersten Tag an geprägt von Reibereien und Instabilität. Geert Wilders, der rechtsextreme Vorsitzende der Partei für die Freiheit (PVV), kritisierte ständig die Arbeit seiner eigenen Regierung, und die Spannungen zwischen den anderen Parteien waren groß.

Wilders eskaliert mit Zehn-Punkte-Plan zur Migration

Obwohl der Fall der Regierung nur eine Frage der Zeit war, kam der Zeitpunkt für viele dennoch überraschend. Nach fast einem Jahr voller Krisen gab Geert Wilders am Montag, dem 26. Mai, eine unvorhergesehene Pressekonferenz, um einen Zehn-Punkte-Plan zur Migration vorzustellen. Dieser Plan umfasste mehrere weitreichende Maßnahmen zur Eindämmung der Migration, darunter den Einsatz der Armee zum Schutz der Landgrenzen, die Einstellung aller Familienzusammenführungen von Asylbewerbern und ein vollständiger Stopp neuer Asylanträge. Die anderen Parteien der Vierparteienkoalition - die liberale Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD), die populistische Bauern-Bürger-Bewegung (BBB) und die konservative Neue Gesellschaftsvertragspartei (NSC) wurden vor ein Ultimatum gestellt: Entweder sie unterzeichnen den Plan oder Wilders würde die Koalition auflösen.

Die zusätzlichen Migrationsmaßnahmen stießen zunächst auf eine verhaltene Resonanz. Die Koalitionspartner wiesen darauf hin, dass mehrere Maßnahmen bereits in der Koalitionsvereinbarung enthalten waren, und forderten die Ministerin für Asyl und Migration, Marjolein Faber (PVV), auf, Gesetzesvorlagen zu ihrer Umsetzung vorzulegen. Viele andere Vorschläge waren während der Koalitionsverhandlungen eingebracht worden, wurden jedoch aus rechtlichen Gründen abgelehnt.

Ohne große Diskussionen kam es am Dienstagmorgen zum Höhepunkt. Wilders rief die Vorsitzenden der vier Koalitionspartner zu einer sehr kurzen Besprechung zusammen und teilte ihnen mit, dass er die Koalition verlassen werde. Wenige Augenblicke später veröffentlichte er dieselbe Nachricht auf X, bevor er den „parteilosen” Ministerpräsidenten Schoof über seinen Rücktritt informierte.

Koalition in Aufruhr

Schockiert von der Schnelligkeit von Wilders' Vorgehen reagierten die drei verbleibenden Koalitionspartner wütend und bezeichneten den Schritt als unverantwortlich (BBB), unverständlich (NSC) und egoistisch (VVD). Trotz der Krisenstimmung sahen die drei Parteivorsitzenden genügend Potenzial, um Lösungen innerhalb des bestehenden Koalitionsvertrags zu finden, und warfen ihm vor, eine selbstverschuldete Krise herbeigeführt zu haben. Die Vorsitzende der VVD, Dilan Yesilgöz ließ verlautbaren, dass es beim Zusammenbruch der Regierung „nicht um Migration ging” und warf der PVV vor, sich ihrer Verantwortung zu entziehen. Dies kam jedoch nicht völlig überraschend, da Geert Wilders genau dasselbe während einer kurzlebigen Koalitionsregierung mit der VVD und den Christdemokraten im Jahr 2012 getan hatte, was den damaligen Ministerpräsidenten Mark Rutte dazu veranlasste, Wilders als politischen Ausreißer zu bezeichnen.

Opposition: Wir haben es euch doch gesagt

Für die Opposition war der Bruch der Regierung weniger überraschend. Angesichts zahlreicher zu lösender Probleme war das Kabinett von internen Machtkämpfen, Instabilität und Inkompetenz geprägt. Ursprünglich hatte sich die Regierung vorgenommen, die Wohnungskrise und die Stickstoffemissionskrise anzugehen und die bislang strengste Asylpolitik umzusetzen, doch es gelang ihr nicht, konkrete Gesetze zu verabschieden. Bezeichnenderweise war ihr größter Erfolg ein Feuerwerksverbot, das im April verabschiedet wurde, wobei zwei Koalitionsparteien -  PVV und BBB - dagegen stimmten.

„Wenn es nicht heute passiert wäre, wäre es in den nächsten Wochen passiert“, kommentierte Rob Jetten, der Parteivorsitzende der sozialliberalen D66, im öffentlichen Fernsehen. Zusammen mit mehreren anderen Oppositionsführern hatte er vor dem unrealistischen Koalitionsvertrag gewarnt, der aus „Luftschlössern auf finanziellem Treibsand“ bestehe.

Der Polit-Kommentator Mark Thiessen vermutete, dass Wilders es sogar vorgezogen hätte, die Regierung noch früher wegen Migrationsfragen fallen zu lassen, und auf jeden Fall das wahrscheinlichere Szenario vermeiden wollte, dass die Regierung im Herbst wegen finanzieller Differenzen einbrechen würde. Dies wäre für die PVV sehr ungünstig gewesen.

Was kommt als Nächstes?

Die Regierung von Dick Schoof wird nun in einer geschäftsführenden Funktion weiterregieren, was bedeutet, dass sie sich nur um die laufenden Angelegenheiten kümmern wird und keine neuen Gesetze vorlegen kann. In gewisser Weise bedeutet das, dass sich in naher Zukunft nicht viel ändern wird. Die Koalition war nie in der Lage, Gesetze zu entwerfen, sodass die verbleibenden Minister nahtlos in ihre geschäftsführende Rolle übergehen können. Angesichts mehrerer dringenden Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt, muss jedoch bald eine neue Regierung gebildet werden.

Wenn die Niederlande Ende Juni Gastgeber des NATO-Gipfels in Den Haag sind, wird das somit große Schwierigkeiten mit sich bringen. Es wird Druck geben, einer Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf bis zu 5 % des BIP zuzustimmen, aber ohne eine parlamentarische Mehrheit wird es für den VVD-Verteidigungsminister Ruben Brekelmans schwierig sein, eine nötige politische Rückendeckung dafür zu bekommen.

In Anbetracht der Tatsache, dass die Bildung einer Regierungskoalition mit dem Ergebnis der letzten Wahl unrealistisch ist, werden nun Neuwahlen erwartet. Die niederländische Presse berichtet, dass diese wahrscheinlich frühestens im Oktober stattfinden werden, was eine weitere längere Phase der Stagnation bedeuten wird. Die Bildung einer Regierung kann mehrere Monate dauern, und im besten Fall würde es bis Ende des Jahres eine Regierung geben.

Etwa zwei Drittel der PVV-Wähler scheinen Wilders' Vorgehen zu unterstützen, aber das andere Drittel ist sich nicht so sicher und wittert eher einen Hauch von Egoismus. Die PVV kann jedenfalls sicherlich nur sehr wenige Erfolge vorweisen. Der erhebliche Rückgang der Asylanträge ist selbst nicht auf die Politik der Regierung zurückzuführen , sondern auf einen massiven Rückgang der Asylanträge von Syrern nach dem Sturz des Assad-Regimes, der zu einem Rückgang der Asylanträge in ganz Europa geführt hat.

Jüngste Umfragen zeigen, dass die PVV etwa ein Drittel ihrer Wählerunterstützung verloren hat und nicht mehr die größte Partei, im Falle einer Wahl, wäre. Nur die VVD würde einen bescheidenen Zuwachs verzeichnen, während die beiden anderen Koalitionspartner, die BBB und die NSC, deren Vorsitzender nach einem anhaltenden Burnout zurückgetreten ist, fast vollständig verschwinden würden. Das Bündnis der Oppositionsparteien bestehend aus Labour und Grünen würde stabil bleiben, während die D66 Zuwächse verzeichnen würde.

Obwohl das politische Experiment einer Regierung mit einer rechtsextremen Partei zu Ende gegangen ist, wird die öffentliche Debatte wahrscheinlich weiterhin vom Thema Migration dominiert werden. Es bleibt abzuwarten, ob die liberalen Parteien in den Niederlanden die Debatte über dieses Thema hinausführen und Wilders und seinesgleichen den Wind aus den Segeln nehmen können. Vorerst ist er jedoch erneut derjenige, der die Diskussion beherrscht.