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Europawahl
Nach der Wahl kommt das Fressen

Der Wettkampf um den Kommissionspräsidenten ist eröffnet
alde

Guy Verhofstadt, Vorsitzender der liberalen ALDE-Fraktion.

© picture alliance / AA

Insbesondere bei einem so vielschichtigen Konstrukt wie der Europäischen Union beginnt nach der Wahl erst einmal das große Taktieren. Während bei einer Bundestags- oder Landtagswahl mit Bekanntgabe des Wahlergebnisses der künftige Regierungschef meist feststeht, beginnen auf europäischer Ebene erst die Verhandlungen. Nicht nur die Fraktionen des Europäischen Parlamentes müssen sich erst herausbilden, auch der Wille der 28 Staats- und Regierungschefs spielt bei der Ausgestaltung der künftigen EU-Kommission eine gewichtige Rolle. 

Die am gestrigen Sonntag zu Ende gegangene Europawahl hat für einige „politische Erdbeben“ in den Mitgliedstaten gesorgt, sie hat jedoch nicht die größte Befürchtung aller Demokraten wahr werden lassen: Rechtspopulisten und -extremisten gehen zwar gestärkt aus der Europawahl hervor, sind jedoch weit davon entfernt, maßgeblich Einfluss auf die kommende Legislaturperiode ausüben zu können. Während die beiden traditionell stärksten Fraktionen im Europaparlament, die konservative EVP- und die sozialdemokratische S&D-Fraktion, Stimmverluste hinnehmen mussten, bleiben sie stärkste Fraktionen. Allerdings führt an der neuen liberalen Fraktion kein Weg mehr vorbei: mit europaweit 14,5 Prozent der Stimmen wird sie demnächst voraussichtlich 107 Europaabgeordnete stellen und maßgeblich an politischem Einfluss gewinnen.

Proeuropäische Liberale fast überall gestärkt

Diesen Erfolg verdanken die Liberalen sowohl neuen Partnerschaften als auch beeindruckenden Erfolgen in einigen Mitgliedstaaten. In der künftigen liberalen Fraktionsgemeinschaft – die noch keinen Namen trägt, da dieser erst in den Verhandlungen mit Macrons „Renaissance-Liste“ gefunden werden muss – werden insbesondere die Franzosen stark vertreten sein. Mit 22,5 Prozent werden sie mindestens 21 Abgeordnete nach Brüssel senden. Eine weitere starke Delegation wird auf (un)absehbare Zeit aus Großbritannien hinzustoßen: dort gelang es den Liberal Democrats geradezu sensationell, hinter der Brexit-Partei von Nigel Farage zweitstärkste Kraft zu werden. Mit 18,6 Prozent werden 16 liberale Briten in der ALDE-Fraktion sitzen – 15 mehr als in der vergangenen Wahlperiode. Die britischen Liberalen profitierten enorm von ihrer klaren Positionierung als Anti-Brexit-Partei und konnten bei dieser Wahl die beiden „großen“ Parteien, Labour (14,1%) und Tories (8,7%), deutlich hinter sich lassen. Damit ist die ALDE-Fraktion der größte Gewinner des verschobenen Brexits, hat potentiell aber auch am meisten zu verlieren, wenn die Briten die Europäische Union doch noch dieses Jahr verlassen.

Auch aus Spanien wird eine signifikante Anzahl liberaler Abgeordneter ins Europaparlament entsandt werden. Die Ciudadanos erreichten vier Wochen nach der spanischen Parlamentswahl 12,2 Prozent und werden voraussichtlich sieben Abgeordnete stellen. Großer Wahlsieger in Spanien ist die sozialistische PSOE, die nach ihrem Erfolg bei den nationalen Wahlen auch die Europawahl mit 32,8 Prozent der Stimmen dominierte. Weitere größere nationale Delegationen werden aus Tschechien (6 Abgeordnete), den Niederlanden (6) und Dänemark (4) erwartet; bei den beiden letztgenannten speisen sich die Abgeordneten allerdings aus jeweils zwei liberalen Parteien. Auch aus der Slowakei konnten vier Abgeordnete der liberalen PS-SPOLU ins Europaparlament einziehen.

Besondere Erwähnung verdient die neu gegründete Bewegung „USR-Plus“ aus Rumänien, die aus dem Stand 21,4 Prozent der rumänischen Wähler (8 Abgeordnete) überzeugte. Auch wenn USR noch kein Mitglied der ALDE-Partei ist, wird mit einem Anschluss an die ALDE-Fraktion gerechnet. Auch ein großer Erfolg gelang in Ungarn, wo Viktor Orban zwar über 50 Prozent der Stimmen auf seine rechtspopulistische Partei Fidesz vereinen konnte, es aber der neuen liberalen Partei Momentum gelang, 9,9 Prozent einzufahren. Dies reicht für zwei liberale ungarische Abgeordnete, die künftig parlamentarisch gegen die antieuropäische und illiberale Politik der ungarischen Regierung kämpfen werden.

Die Liberalen als Königsmacher

Nachdem weder die europäischen Konservativen noch die Sozialdemokraten alleine Mehrheiten bilden können, werden sie umso stärker auf die Unterstützung der liberalen Fraktion angewiesen sein. Auch Mitte-Rechts oder Mitte-Links-Koalitionen sind ohne Beteiligung der ALDE in Zukunft kaum denkbar. Bei den Liberalen, die einen Automatismus bei der Einsetzung von einem der beiden „Spitzenkandidaten“ als Kommissionspräsidenten bereits im Vorfeld abgelehnt hatten, regt sich Widerstand: „Zu dieser Stunde hat sich kein Kandidat eine Mehrheit im Europäischen Parlament gesichert", heißt es in einer ersten Erklärung der ALDE.

In einer Mitteilung ließ auch Guy Verhofstadt, bis dato ALDE-Fraktionsvorsitzender, verkünden, dass die beiden großen Parteien „äußerst vorsichtig sein sollten, an den demokratisch gewählten Regierungschefs vorbei“ einen Kommissionspräsidenten durchzudrücken. Damit erinnert Verhofstadt an die Rolle des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs, der den Kommissionspräsidenten offiziell vorschlagen muss. Hier gehören gegenwärtig neun von 28 Staats-und Regierungschefs einer liberalen Partei an, womit die Liberalen gleichauf mit den Konservativen sind. Verhofstadts Äußerungen können auch als Spitze gegen den Spitzenkandidaten der europäischen Konservativen Manfred Weber verstanden werden, den viele Liberale ablehnen. Als Königsmacher haben die Liberalen zudem noch eine eigene starke Kandidatin in der Hinterhand: die dänische Kommissarin Margrethe Vestager könnte hier die lachende Dritte werden.

Nationale Besonderheiten

Wie fast immer schrieb die Europawahl auch diesmal in den Mitgliedstaaten ihre ganz eigenen Geschichten: In Griechenland sorgte das schlechte Wahlergebnis der regierenden SYRIZA-Partei dafür, dass Premierminister Tsipras vorgezogene Neuwahlen ausrief. In Belgien fanden parallel zur Europawahl nationale Parlamentswahlen statt, in denen die Rechtsextremen drastische Gewinne einfahren konnten: Die flämisch-separatistische N-VA wurde landesweit stärkste Kraft, gefolgt von den flämischen Rechtsradikalen des „Vlaams Belang“. N-VA-Parteichef Bart de Wever forderte noch am Wahlabend eine weitere Staatsreform, in der er den belgischen Föderalstaat zu einer losen „Konföderation“ umbauen möchte.

Eine kuriose Randnotiz kam aus dem traditionell europaskeptischen Tschechien. Dort lag die Wahlbeteiligung bei 28,7 Prozent, war damit jedoch bereits zehn Prozentpunkte höher als bei der EU-Wahl 2014. Schlusslicht bei der Wahlbeteiligung war diesmal die Slowakei, wo lediglich 22,7 Prozent der Bürgerinnen und Bürger von ihrem Wahlrecht Gebrauch machten.