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Polen
Die EU muss handeln

Tausende Bürgerinnen und Bürger demonstrierten bei den 'We're staying in EU' Protesten am 10. Oktober 2021.
Tausende Bürgerinnen und Bürger demonstrierten bei den 'We're staying in EU' Protesten am 10. Oktober 2021. © picture alliance / NurPhoto | Beata Zawrzel

Schneller, früher und wirksamer: Die EU muss dem jüngsten Urteil des Europäischen Gerichtshofs zu Polen Taten folgen lassen. Sonst verliert sie einen Teil ihrer Legitimation.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat es der polnischen Regierung erneut ins Stammbuch geschrieben: Die Rechtsstaatlichkeit in Polen entspricht nicht den Normen, die für ein europäisches Land zur Wahrung von Menschenrechten verbindlich sind und sein sollten.

Seit ihrem Antritt im Jahr 2015 hat die von der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) geführte Regierung systematisch die Unabhängigkeit der Justiz untergraben. Sie ließ unliebsame Verfassungsrichter durch vorzeitige Pensionierung entfernen, sie hat die Richternominierung faktisch in die Hand der Regierungsmehrheit übergeben und eine Disziplinarkammer eingeführt, die es dem Justizminister praktisch erlaubt, die Immunität von Richtern aufzuheben. Das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts zu einer beispiellosen Verschärfung des Abtreibungsrechts legt für viele Beobachter den Schluss nahe, dass die Justiz so etwas wie der verlängerte Arm der Regierung geworden ist.

Polens Regierung hat schon mehrfach durch den EuGH bestätigt bekommen, die in den EU-Verträgen garantierten Standards an Rechtsstaatlichkeit nicht zu erfüllen. Nun wieder: „Die in Polen geltende Regelung, nach der der Justizminister, der gleichzeitig Generalstaatsanwalt ist, Richter an Strafgerichte höherer Ordnung abordnen und eine solche Abordnung jederzeit beenden kann, ist unionsrechtswidrig“, stellt das Gericht in seinem jüngsten Urteilsspruch fest.

Allein: Den Urteilen müssen konsequente Taten auf EU-Ebene folgen. Dies geschah bisher zu zögerlich und zu spät. Die Regierung in Warschau konnte so den Konflikt recht ungehindert weiter eskalieren. Dies hat dazu geführt, dass sie sich in eine Sackgasse manövriert hat, aus der sie ohne Gesichtsverlust kaum noch herauskommt. Die vergleichsweise moderaten Kräfte, die zum Beispiel die Disziplinarkammer abschaffen wollen, sind auf diese Weise Geiseln der Hardliner um Justizminister Ziobro geworden, der Urteile des EuGH für eine „Aggression gegen Polen“ hält und Polen an den Rand eines Austritts aus der EU treibt.

Was tun? Es ist richtig, dass im Rahmen der Diskussion um den Mehrjährigen Finanzrahmen über finanzielle Sanktionen nachgedacht wird.

Es ist auch richtig, dass der EuGH bereits Strafgelder eingefordert hat. Es bleibt auch richtig, Verstöße per Eilvorlageverfahren beim EuGH festzustellen. Wir Europäer brauchen zudem ein Frühwarnsystem, das den eigenen rechtsstaatlichen Grundsätzen genügt: Eine lange und lähmende Eskalation, wie im Falle Polens, ist nicht gut – weder für Polen noch für die EU. So verbreitet sich das Gift der Spaltung weiter. Es sollte grundsätzlich ein regelmäßiges EU-weites Monitoring („Rule of Law Review Cycle“) eingeführt werden, das frühzeitig Verstöße feststellt. Wenn dies für alle Mitgliedstaaten gilt, wird das von der polnischen Regierung gerne angeführte Argument hinfällig, Polen werde willkürlich an den Pranger gestellt.

Und es muss die Opposition in Polen unterstützt werden. Mutige Polinnen und Polen demonstrieren mit der Verfassung in der Hand für Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Meinungsfreiheit. Dieser Verfassungspatriotismus ist der Gegenentwurf zum autoritären Rechtspopulismus der Regierung. Und auch über eine andere Schwachstelle bei der EU muss geredet werden, wenn es um die Durchsetzung von elementarster Rechtsstaatlichkeit geht: Polen kann zusammen mit der sich selbst illiberal nennenden Regierung Ungarns gegenwärtig Feststellungsverfahren recht effizient behindern. Deshalb sollten im Europäischen Rat Entscheidungen der Feststellung von Vertragsverletzungen bei rechtsstaatlichen Fragen mit einer qualifizierten Mehrheit anstelle von Einstimmigkeit getroffen werden.

Kurz: Der Raum für entschiedeneres Handeln muss weiter geöffnet und dann auch genutzt werden. Politisch geht es ja nicht nur um den Einzelfall, über den der EuGH wieder einmal zu befinden hatte. Die Europäische Union lebt von den Werten, die auf Menschenrechten, Rechtsstaat und Demokratie beruhen. In etlichen Ländern – und das betrifft nicht nur Polen – werden immer häufiger rechtsstaatliche Prinzipien systematisch verletzt, nicht nur bei der Unabhängigkeit der Justiz, sondern auch in Fragen der Pressefreiheit oder bei Rechten von Minderheiten. Das ist in höchstem Maße alarmierend. Die EU verliert einen Teil ihrer Legitimation, wenn sie hier versagt. Das dürfen wir nicht zulassen.

 

Dieser Artikel erschien am 21.11.2021 in der Frankfurter Rundschau.