Human Rights
Prisoners of Conscience: Ksenia Lutskina
Ksenia Lutskina arbeitete als Journalistin beim Staatsfernsehen, als eine Protestwelle durch die belarussische Hauptstadt Minsk schwappte. Tausende gingen auf die Straße, um gegen die Ergebnisse der Wahl 2020 zu protestieren und den Rücktritt des autoritären Langzeit-Präsidenten Alexander Lukaschenko zu fordern. Lutskina schloss sich den regierungskritischen Kundgebungen an und begann mit der Planung einer unabhängigen Medienplattform.
Im Dezember desselben Jahres wurde sie festgenommen und zwei Jahre später wegen “Verschwörung zur Erlangung der Staatsmacht” zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Nachdem sie die Hälfte der Strafe abgesessen hatte, wurde sie begnadigt und im Sommer 2024 freigelassen. Heute lebt sie im Exil.
Das Interview wurde gekürzt.
Haben Sie damit gerechnet, wegen Ihrer Arbeit verfolgt zu werden? Gab es einen bestimmten Moment, in dem Sie das Gefühl hatten, eine unsichtbare Linie zu übertreten?
Beim Staatsfernsehen kannten wir alle die Regeln. Ich habe es immer “den Rahmen” genannt. Innerhalb dieses Rahmens waren wir frei, aber nicht außerhalb davon. Man konnte kreative Ideen haben, aber wenn sie nicht mit der Staatsideologie übereinstimmen, wurden sie abgewiesen. Die wichtigste Regel war, dass man den Staat nicht kritisieren durfte. Man musste allem zustimmen. Jeder hat diese Regeln verstanden und sie waren das Entscheidende.
Ich habe die Politik immer gemieden. Ich wollte nicht für Lukaschenko arbeiten. Ich hatte das Gefühl, meine Arbeit über Kultur und Geschichte war wichtig - insbesondere gegen russische Propaganda. Da Russland ausschließlich russische Geschichte und Kultur propagiert und die belarussische Identität auslöscht, war es sehr wichtig, Dokumentationen über unsere Kultur, Vergangenheit und unser Erbe zu drehen.
Aber nach der Wahl 2020 hat sich alles verändert.
Die wichtigste Regel war, dass man den Staat nicht kritisieren durfte. Man musste allem zustimmen. Jeder hat diese Regeln verstanden und sie waren das Entscheidende.
Wie war die Stimmung im Sender während dieser Zeit?
Vor der Wahl war das Gebäude von Militär und Polizei besetzt. Zwei ganze Etage waren mit ihnen gefüllt. Das war einschüchternd und sehr stressig. Sie waren dort, um Streiks zu verhindern und uns zu kontrollieren. Wir wollten die Wahrheit zeigen, aber das war unmöglich. Es gab drei Tage lang kein Internet. Im belarussischen Fernsehen haben sie alte Berichte über Landwirtschaft, Kultur und Sport gesendet - während es auf den Straßen zu Gewalt kam. Menschen waren sauer auf uns, aber wir hatten nicht die Macht, etwas anderes zu senden.
Wir haben einen Streik im Sender organisiert. Mehr als 3 000 Mitarbeiter von 18 Fernsehkanälen und verschiedenen Radiostationen haben gefordert, als richtige Journalisten arbeiten zu können, ehrlich zu berichten. Wir haben sogar einen Brief an das Informationsministerium geschrieben.
Ich war eine der Anführer des Streiks und wir haben uns entschieden, ein unabhängiges Medienprojekt online zu gründen. Für mich war das der einzige Weg, weiterzukommen. Aber im Dezember 2020 wurde ich festgenommen - kurz bevor wir an Silvester online gehen wollten. Ich wurde angeklagt, eine Verschwörung zu organisieren, um die Regierung mit meiner unabhängigen Medienplattform zu stürzen und wurde später zu acht Jahren Gefängnis verurteilt.
Wie sehen Sie diese Zeit im Rückblick?
2020 war zugleich schrecklich und motivierend. Auf den Straßen haben die Belarussen zusammengefunden - sie haben gemerkt, dass sie in der Mehrheit waren, nicht Lukaschenko. Es war eine nationale Erwachung. Auch wenn ich inhaftiert wurde, glaube ich nach wie vor, dass das ein Wendepunkt für unsere Gesellschaft war.
Wie würden Sie das Leben im Gefängnis beschreiben?
Für eine Weile hatte ich überhaupt keinen Kontakt zur Außenwelt, das war sehr schwierig. In Minsk saßen wir während der Ermittlungen in einem Gefängnis, das mehr als 200 Jahre alt war, ohne Renovierungen. Die Bedingungen waren schrecklich. Es gab kein warmes Wasser und wir konnten uns nur einmal pro Woche 10 Minuten lang waschen, egal wie viele Leute sich diesen Slot teilen mussten. Das Essen war grauenhaft.
Medizinische Versorgung war kaum existent. Ich glaube, ich wurde nur freigelassen, weil die Behörden befürchtet haben, ich könnte im Gefängnis sterben. Die Ärzte wollten helfen, aber sie hatten keine Medikamente, keine Ausrüstung, nichts außer rudimentärem Notfallequipment.
Was war der härteste Teil des Lebens im Gefängnis?
Von meinem Sohn getrennt zu sein. Ich habe ihn jahrelang nicht gesehen. Das war viel härter als alles andere, was sie mir angetan haben.
Haben Sie einen Weg gefunden, um während der Haft irgendwie die Hoffnung zu behalten?
Die Hoffnung kam von innen. Das Gefängnis ist ein Ort ohne Freude, aber die, die ein erfüllendes Leben vor der Inhaftierung hatten - Karrieren, Familien, Erfolgserlebnisse - hatten diese Zuversicht in sich drin. Ich habe versucht, mich selbst daran zu erinnern, dass das Böse nicht für immer bleiben kann, eines Tages werde ich frei sein.
Im Gefängnis haben mir andere politische Gefangene Kraft gegeben. Trotz der harten Bedingungen war da Solidarität. Wir haben mit unseren Augen auch eine stille Sprache entwickelt, mit der wir uns auch ohne Worte gegenseitig unterstützt haben. Diese Solidarität hat uns gerettet.
Es steht und fällt damit, dass man seine Psyche schützt. Selbst wenn der Körper leidet, im Kopf muss man menschlich bleiben - für Liebe empfänglich sein und Freude an den kleinen Dingen finden. Ich weiß noch, nach zwei Jahren in Minsk, als ich in die Strafkolonie verlegt wurde, hat es mich schon mit Fröhlichkeit erfüllt, einfach nur den Himmel ohne Gitter davor zu sehen. Gras, Bäume und Blumen - Dinge, die wir für selbstverständlich halten, werden zu Wundern.
Bücher sind auch sehr wichtig. In Minsk gab es eine gute Bibliothek. Lesen war wie ein Rückzugsort.
Im Gefängnis haben mir andere politische Gefangene Kraft gegeben. Trotz der harten Bedingungen war da Solidarität. Diese Solidarität hat uns gerettet.
Was, denken Sie, sollten Menschen außerhalb von Belarus verstehen, wenn es um politische Gefangene geht?
Das Ausmaß der Repression. Am Ende der Sowjetunion gab es ungefähr 12 politische Gefangene pro eine Million Menschen. Im heutigen Russland sind es etwa drei pro Million. In Belarus sind es mehr als 140 pro Million - die meisten auf der Welt. Und das sind nur die offiziellen Fälle. Viele andere leben als Gefangene in ihrem Alltag, sie können nicht frei arbeiten oder sprechen.
Die Welt sollte wissen, dass wir im Europa des 21. Jahrhunderts totalitäre Regime haben, die Menschen einsperren, weil sie die falsche Webseite besuchen oder einen Post in den sozialen Medien liken. Es ist essentiell, darüber zu sprechen, um das Bewusstsein unter westlichen und europäischen Politikern zu steigern und auf einen Wandel zu drängen. Belarus hat nette, intelligente Menschen, und sie verdienen eine Zukunft.
Jetzt, da Sie wieder frei und im Exil sind, wie bauen Sie Ihr Leben wieder auf?
Wir fangen gerade erst an. Ich habe endlich Zeit, mich auf meine Gesundheit zu konzentrieren, was ich dringend tun muss. Mein Sohn ist bei mir, das macht mich froh. Er geht in die Schule, liebt es, Deutsch zu lernen, und träumt davon, Historiker zu werden oder vielleicht ein Journalist wie ich. Ich hoffe, er kann diese Träume verfolgen, ohne deswegen mit einer Gefängnisstrafe rechnen zu müssen.
Ich verbringe auch viel Zeit damit, politischen Gefangenen in Belarus zu helfen. Ein Teil von mir ist dort bei ihnen geblieben. Gleichzeitig hoffe ich, sichere Arbeit als Journalistin zu finden und aus dem Exil etwas zur demokratischen Bewegung beitragen zu können.
Prisoners of Conscience from East and Southeast Europe
Von vielen politischen Gefangenen in Ost- und Südosteuropa stellen wir einige ausgewählte vor. Jeder politische Gefangene ist einer zu viel.
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