Tunesien
Tunesien 15 Jahre nach der Jasmin-Revolution: Was vom Arabischen Frühling blieb
Das Denkmal für Mohamed Bouazizi in seiner Heimatstadt Sidi Bouzid.
© Birgit Lamm (FNF)Am 17. Dezember 2010 verbrannte sich der Straßenhändler Mohamed Bouazizi in der tunesischen Provinzstadt Sidi Bouzid. Die Polizei hatte dem 26-jährigen Gemüsehändler zum wiederholten Mal seinen Verkaufskarren konfisziert – seine einzige Existenzgrundlage. Er wollte sich darüber bei den Behörden beschweren. Als das keinen Erfolg hatte, steckte sich der verzweifelte Gemüsehändler vor der Stadtverwaltung selbst in Brand.
Bouazizis Selbstverbrennung und sein Tod am 4. Januar 2011 wurde zum Auslöser für landesweite Massenproteste. Unter dem Slogan „Arbeit, Freiheit, nationale Würde“ gingen die Menschen gegen Korruption, Polizeigewalt, Arbeitslosigkeit, soziale Ungleichheit und das autoritäre Regierungssystem von Staatspräsident Ben Ali auf die Straße. Innerhalb von nur 10 Tagen brach das 23-jährige autoritäre Regime Ben Alis zusammen. Am 14. Januar 2011 floh er ins Exil.
Schnell erfassten die Massenproteste auch andere Staaten der arabischen Welt. In Ägypten, Libyen und im Jemen fegten Massendemonstrationen die autoritären Regime von Mubarak, Gaddafi und Saleh hinweg. Libyen und der Jemen versanken danach im Bürgerkrieg. Ägypten kehrte 2013 unter General Sisi wieder zu einer autoritären Regierungsform zurück. In Syrien begann ein blutiger Bürgerkrieg gegen das Assad-Regime, der erst 2024 sein vorläufiges Ende mit der Flucht Bashar al Assad‘s nach Moskau fand.
Der Uhrenturm am Ende der Avenue Habib Bourguiba in Tunis – 1988 unter Ben Ali errichtet, später zum Symbolort der Revolution von 2011 geworden.
© Birgit Lamm (FNF)Nur im Ursprungsland des Arabischen Frühlings, in Tunesien, begann nach der „Jasmin-Revolution“ ein demokratischer Neubeginn: Im Oktober 2011 wählten die Tunesier eine verfassungsgebende Versammlung, die eine Übergangsregierung bilden und eine neue Staatsverfassung ausarbeiten sollte. In einem schwierigen politischen Prozess wurde die neue Verfassung schließlich 2014 fertig gestellt. Sie sah u.a. politische Grundrechte, Frauenrechte, eine unabhängige Justiz, politische Parteien und Gewerkschaften vor.
Das sog. „Nationale Dialogquartett“, bestehend aus dem Gewerkschaftsverband UGTT, dem Unternehmerverband UTICA, der tunesischen Menschenrechtsliga LTDH sowie der Anwaltskammer ONAT, die maßgeblich die Fertigstellung der Verfassung zwischen Regierung, Opposition und Zivilgesellschaft vermittelt hatten, erhielt dafür 2015 sogar den Friedensnobelpreis. International wurde die Verabschiedung der Verfassung als Erfolg eines inklusiven politischen Dialogs gefeiert, von dem man sich eine Vorbildfunktion für die ganze Region erhoffte.
Trotzdem konnte die junge Demokratie Tunesien weder die wirtschaftlichen Probleme lösen noch dem Land die dringend benötigte politische Stabilität bringen. Zwischen der Revolution von 2011 und dem Amtsantritt des aktuellen Staatspräsidenten Kais Saied 2019 gab es 9 Regierungen mit zahlreichen Kabinettsumbildungen in nur 8 Jahren. Geringes Wirtschaftswachstum, hohe Inflation und Arbeitslosigkeit machte den Menschen sehr zu schaffen. Große Politikverdrossenheit und Frustration machten sich breit, insbesondere unter jungen Menschen.
Als der amtierende Präsident Essebsi im Juli 2019 unerwartet verstarb, sah die neue Verfassung Neuwahlen innerhalb von 90 Tagen vor. Im ersten Wahlgang kristallisierten sich als aussichtsreichste Kandidaten der Medienunternehmer Karaoui und der bis dahin unbekannte politische Quereinsteiger, Jura-Dozent und Verfassungsrechtler Kais Saied heraus. Politiker der etablierten Parteien hatten keine Chance. Die Wahlbeteiligung im ersten Wahlgang lag bei knapp 49%, deutlich weniger als noch 2014 (63%). Im zweiten Wahlgang gewann der Politikneuling Kais Saied mit knapp 73% der Stimmen einen erdrutschartigen Sieg. Deutlicher konnte sich die Frustration der Wähler mit den politischen Parteien und der Politik der letzten Jahre kaum ausdrücken.
Kais Saied hatte die Wahlen von 2019 mit einer populistischen Anti-Establishment-Rhetorik gewonnen. Er wollte die Politik von Korruption „reinigen“, Reformen anstoßen und für die Politik eine neue moralische Grundlage schaffen. Die Wahlen von 2019 waren ein klares Votum gegen ein politisches System, keine Wahl für ein bestimmtes politisches Programm.
Kais Saied konzentrierte in den kommenden Jahren immer mehr politische Macht in seinen Händen, diskreditierte politische Gegner und kritische Medien. Mit der neuen, wohl von ihm selbst geschriebenen Verfassung von 2021 führte Kais Saied ein autoritäres Präsidialsystem ein, setzte Parlament und politische Parteien außer Kraft. Zahlreiche Politiker der Vorgängerregierungen und einflussreiche Unternehmer wurden mit Korruptions- oder sogar Terrorismusvorwürfen zu extrem hohen Haftstrafen verurteilt. Kritische Journalisten und Anwälte wurden wegen Diffamierung verhaftet und erwarten ebenfalls langjährige Haftstrafen. Im internationalen Index der Pressefreiheit fiel Tunesien deshalb 2025 von Platz 118 (2024) auf Platz 129 von 180 Ländern. Im „Freedom of the World Index”, der politische und bürgerliche Freiheitsrechte bewertet, wird Tunesien 2025 gegenüber 2024 nur noch als „teilweise frei“ bewertet.
Nicht nur bekannte Regimekritiker und Dissidenten können ins Fadenkreuz der Behörden geraten. Im Oktober 2025 verurteilte ein Gericht in der Küstenstadt Nabeul einen einfachen Tagelöhner zum Tode wegen „Diffamierung des Präsidenten“, weil er sich auf seinem Facebook-Account mit 260 Followern kritisch geäußert hatte. Der Fall machte Schlagzeilen. Nach einer Welle scharfer internationaler Proteste, u.a. von Amnesty International und Human Rights Watch, wurde der Beschuldigte vom Präsidenten begnadigt und am 7. Oktober frei gelassen. Auch wenn das Verfahren am Ende für den Beschuldigten glimpflich ausging, hat dieser Vorfall ein deutliches Warnsignal gesendet. Viele Menschen empfinden diesen Vorfall als bedrohliche Verschärfung beim Abbau der Meinungsfreiheit und der unabhängigen Justiz und sind mit öffentlichen Meinungsäußerungen sehr vorsichtig geworden.
Während das norwegische Nobelpreis-Komitee den Demokratieprozess in Tunesien 2015 noch als hoffnungsvolles Beispiel für die Welt betrachtete, ziehen viele Tunesier 15 Jahre nach der „Jasmin-Revolution“ eine ernüchternde Bilanz, oder wünschen sich sogar die „bleiernen Jahre“ des Diktators Ben Ali zurück. Ein Geschäftsmann aus Tunis bringt es auf den Punkt: „Unter Ben Ali gab es keine Meinungsfreiheit oder politischen Freiheitsrechte, aber es gab Kontinuität. Wir kannten die roten Linien, die man nicht überschreiten durfte. Die Unsicherheit und Unberechenbarkeit, die wir seit dem Beginn der Revolution erleben, sind Gift für die Unternehmen. Die ausgeuferte Alltags-Korruption macht uns schwer zu schaffen.“ Im November 2025 gingen mehrere tausend Menschen in der Landeshauptstadt Tunis auf die Straße. Die Gewerkschaft UGTT, NGOs, Ärzte, Banker und Journalisten demonstrierten gegen die andauernde Wirtschaftskrise und die autoritäre Politik von Präsident Kais Saied unter dem Slogan „Gegen Ungerechtigkeit“ und „Aktivisten sind keine Kriminellen“ – Die Probleme des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi, die ihn 2010 zu seiner Verzweiflungstat bewegten, sind auch heute noch gelebter Alltag vieler Menschen in Tunesien.