VIETNAM
EU-Freihandel modernisiert Vietnam
Rekordhandel, Reformdruck, neue Standards: Eine FNF-Studie zu fünf Jahren
Freihandelsabkommen zwischen der EU und Vietnam zeigt, dass der Erfolg weit über
Zollsenkungen hinausgeht.
Das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Vietnam (EU-Vietnam Free Trade Agreement, EVFTA), das am 1. August 2020 in Kraft trat, ist weit mehr als ein klassisches Handelsabkommen zur Abschaffung von Zöllen. Als Abkommen der „neuen Generation“ schuf es einen anspruchsvollen und umfassenden Kooperationsrahmen, der neben dem Waren- und Dienstleistungshandel auch Investitionsschutz, geistige Eigentumsrechte sowie wegweisende Verpflichtungen zu nachhaltiger Entwicklung und Arbeitsstandards umfasst. Fünf Jahre nach seinem Inkrafttreten hat sich das EVFTA als ein zentraler Transformationsmotor für Vietnams Wirtschaft erwiesen: Es treibt Rekordhandelsvolumina an, zieht qualitativ hochwertige ausländische Investitionen an und dient – vielleicht am wichtigsten – als wirkungsvolles Instrument für tiefgreifende institutionelle Reformen im Inland.
Link zu der Studie - THE EVFTA AT FIVE: COMPREHENSIVE REVIEW OF OUTCOMES AND OPPORTUNITIES.
Die quantitativen Erfolge des EVFTA in den vergangenen fünf Jahren sind bemerkenswert, insbesondere vor dem Hintergrund der globalen wirtschaftlichen Belastungen durch die COVID‑19‑Pandemie und nachfolgende Störungen der Lieferketten. Das bilaterale Handelsvolumen zwischen Vietnam und der Europäischen Union stieg von 43,2 Milliarden Euro im Jahr 2020 auf geschätzte 55 Milliarden Euro im Jahr 2024. Diese Entwicklung unterstreicht die zentrale Rolle des Abkommens bei der Erleichterung des Marktzugangs. Besonders deutlich zeigt sich dies im stark gewachsenen vietnamesischen Handelsüberschuss gegenüber der EU, der 2024 Rekordwerte zwischen 26,6 und 35,4 Milliarden US‑Dollar erreichte. Die vietnamesischen Exporte in die EU erhöhten sich von 35,1 Milliarden US‑Dollar im Jahr 2020 auf 51,6 Milliarden US‑Dollar im Jahr 2024 – ein durchschnittliches jährliches Wachstum von 10,1 Prozent. Schlüsselbranchen wie Elektronik, Schuhe, Agrarprodukte und Textilien profitierten dabei maßgeblich vom schrittweisen Zollabbau, der bis 2025 rund 85 Prozent aller Waren erfasste und bis 2027 auf 99 Prozent ausgeweitet wird.
Über den Handel hinaus entfaltet das EVFTA eine tiefgreifende Wirkung auf ausländische Direktinvestitionen. Das Abkommen fungiert als Magnet für qualitativ hochwertiges Kapital europäischer Unternehmen. Zwischen 2020 und 2024 stiegen die Investitionen aus der EU in Vietnam um rund 35 Prozent, mit einem klaren Schwerpunkt auf Sektoren, die Vietnams langfristigen Entwicklungszielen entsprechen – darunter erneuerbare Energien, Hightech‑Industrie und digitale Infrastruktur. Diese Investitionen gehen über reine Kapitalzuflüsse hinaus: Sie unterstützen den Übergang Vietnams zu einer grünen, wissensbasierten Wirtschaft. Projekte im Bereich Solar‑ und Windenergie sowie Technologietransfers im Gesundheitssektor – etwa die lokale Produktion hochwertiger Impfstoffe nach EU‑Standards – markieren den Wandel von traditioneller Fertigung hin zu technologiegetriebenen Partnerschaften. Durch strengere Vorgaben zum Schutz geistigen Eigentums und zur Transparenz im öffentlichen Beschaffungswesen hat das EVFTA zudem zu einem berechenbareren und wettbewerbsfähigeren Geschäftsumfeld beigetragen und damit langfristige Engagements multinationaler Unternehmen begünstigt.
Jenseits der ökonomischen Kennzahlen dürfte das nachhaltigste Vermächtnis des EVFTA in seiner Rolle als Hebel für umfassende institutionelle und politische Reformen liegen. Das Abkommen erforderte eine weitgehende Angleichung nationaler Vorschriften an internationale Standards, insbesondere im Arbeits‑ und Umweltrecht. Vietnam hat spürbare Fortschritte bei der Umsetzung zentraler Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) erzielt, etwa im Hinblick auf bessere Arbeitsbedingungen. Parallel dazu führten die Modernisierung der Zollverfahren über den National Single Window‑Mechanismus und die weitgehende Digitalisierung administrativer Abläufe zu einer deutlichen Senkung der Transaktionskosten und zu einer Stärkung der Marktglaubwürdigkeit. Diese institutionelle Aufwertung ist mehr als reine Vertragstreue: Sie positioniert Vietnam neu in globalen Wertschöpfungsketten – weg von einem reinen Niedriglohnstandort hin zu einem verlässlichen Produktionspartner mit hohen Qualitäts‑ und Standardanforderungen.
Auch die sozioökonomischen Effekte des Abkommens sind erheblich. Schätzungen zufolge entstanden rund 200.000 neue Arbeitsplätze in exportorientierten Branchen, die stabile Einkommen und verbesserte Lebensbedingungen bieten – insbesondere für Frauen in ländlichen Regionen, die einen großen Teil der Arbeitskräfte in der Textil‑ und Agrarwirtschaft stellen. Gleichzeitig werden die Herausforderungen komplexer. Vor allem kleine und mittlere Unternehmen haben weiterhin Schwierigkeiten, die anspruchsvollen Ursprungsregeln und zunehmend strengen nichttarifären Handelshemmnisse zu erfüllen. Hinzu kommen neue Anforderungen aus den Initiativen des Europäischen Green Deal, etwa dem CO₂‑Grenzausgleichsmechanismus (CBAM) und der EU‑Verordnung gegen Entwaldung (EUDR), die vietnamesische Exporteure zu nachhaltigen Produktionsweisen zwingen, um den Marktzugang nicht zu verlieren.
Mit Blick nach vorn eröffnet das EVFTA Vietnam einen strategischen Entwicklungsraum, der das Land eng an die grüne und digitale Transformation der Weltwirtschaft anbindet. Der Aufbau „grüner“ Wertschöpfungsketten und die wachsende Bedeutung von Nachhaltigkeitszertifizierungen stellen sowohl Herausforderung als auch Chance dar, um in höherwertige Marktsegmente vorzustoßen. Um seinen Vorsprung als First Mover zu sichern, muss Vietnam künftig über steuerliche Anreize hinausdenken – zumal diese durch globale Mindeststeuerregelungen an Wirkung verlieren. Entscheidend werden Investitionen in hochwertige physische und digitale Infrastruktur, eine gut ausgebildete Erwerbsbevölkerung sowie ein leistungsfähiges Innovationsökosystem sein.
Fünf Jahre nach Inkrafttreten zeigt das EVFTA somit, dass es sich nicht nur um ein präferenzielles Handelsabkommen handelt, sondern um ein strukturelles Instrument zum Aufbau nationaler Leistungsfähigkeit. Es hat die Beziehungen zwischen Vietnam und der Europäischen Union grundlegend verändert und von einer klassischen Käufer‑Verkäufer‑Beziehung zu einer umfassenden strategischen Partnerschaft für nachhaltige Entwicklung und gegenseitige Resilienz weiterentwickelt. Der Erfolg der nächsten Phase wird davon abhängen, ob es Vietnam gelingt, institutionelle Reformen, technologischen Fortschritt und ökologische Verantwortung strategisch zu verzahnen – damit das EVFTA auch künftig als Sprungbrett für eine nachhaltige Integration in die globale Wirtschaft des 21. Jahrhunderts dient.
*Le Bich Ngoc ist Programm-Managerin im FNF-Büro in Hanoi.