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Stiftungsjubiläum
Das Gesetz als Schutzschild, Lippenstift als Rüstung

Wie ehrenamtliche Juristen mit Unterstützung der Stiftung auf den Philippinen tätig sind
Cathy Alvarez

Cathy Alvarez mit ihrer Kollektion an Lippenstiften

© FNF

Die langjährige Rechtsanwältin und Stiftungspartnerin Cathy Alvarez unterstützt auf den Philippinen ehrenamtlich Bürgerinnen und Bürger, denen der Zugang zu Rechtsbeistand ansonsten verwehrt bliebe. Anlässlich des 60. Jubiläums der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit berichten wir aus aller Welt über unseren Einsatz für Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte in mehr als 60 Ländern.

Es war 13.30 Uhr an einem heißen Sommernachmittag in Cebu, einer Stadt im Süden der Philippinen, und Cathy Alvarez und ihre Gäste hatten noch nicht zu Mittag gegessen. Sie gingen in ein Restaurant, das den besten Lechon – philippinisches Spanferkel – der Gegend servierte, und der Ort war sogar zu dieser Tageszeit voll. Cebu soll das köstlichste Spanferkel mit der knusprigsten Haut und dem schmackhaftesten Fleisch haben.

Als Alvarez und ihre Begleiter endlich einen Tisch bekamen, bestellten sie ein Kilo Lechon. Sie verschlangen es mit Genuss und Begeisterung, so dass das Fett des Spanferkels ihre Lippen schimmern ließ, als würden sie Lippenstift tragen.

Das war ihr Stichwort, um ihr Kosmetiktasche voller Lippenstifte herauszuholen. Sie reihte sie aneinander und zeigte ihre Farben - eine Palette so bunt wie ihre Lebensgeschichte.

Frauen brauchen keine Ritter in glänzender Rüstung

Cathy Alvarez ist seit 16 Jahren Rechtsanwältin. Bevor sie und ihre Freunde beschlossen, eine eigene gemeinnützige Organisation zu gründen, war Alvarez bei der Humanitarian Legal Assistance Foundation (HLAF), wo sie im Mandaue City Gefängnis in Cebu eine juristische Ausbildung für weibliche Insassen durchführte. Seit 2014 unterrichtete sie drei Jahre lang Frauen, die inhaftiert sind, über Recht und Gesetz. Im Gegenzug haben sie ihr beigebracht, wie man Lippenstift trägt.

Alvarez bemerkte, dass die weiblichen Häftlinge immer mit Lippenstift zum juristischen Training kamen. "Sie fühlten sich hilflos im Gefängnis. Der einzige Aspekt in ihrem Leben, über den sie im Gefängnis die Kontrolle hatten, war, wie sie aussahen", beobachtete Alvarez. „Lippenstift war ihre Art, sich auszudrücken und ihre Freiheit in ihrer Würde zu finden."

Im Gefängnis nur „Die Lippenstiftbrigade“ genannt, war es gelungen, diese Frauen hinter Gittern durch ihr neues juristisches Wissen – und natürlich durch ihren Lippenstift – zu stärken. Die frisch ausgebildeten ehrenamtlichen Rechtsanwaltsgehilfinnen wollten nun anderen Häftlingen bei ihren Fällen helfen – etwa indem sie sie dabei unterstützen, eidesstattliche Erklärungen zu schreiben oder ihre Gerichtsverhandlungstermine zu verfolgen, um ihnen letztendlich aus dem Gefängnis zu helfen.

„Durch die Lippenstiftbrigade habe ich gelernt, dass Frauen, die die Gesetze zum Schutz ihrer Rechte kennen und anwenden können, keine Ritter in glänzender Rüstung brauchen, sondern nur ein bisschen Lippenstift", sagt Alvarez.

Die Wahrheit über die juristische Fakultät

Alvarez erwarb ihren Abschluss in Rechtswissenschaften an der Universität San Carlos, Cebu. Sie wollte zum Jurastudium nach Manila ziehen, aber ihre Eltern erlaubten es ihr nicht. Manila, das rund 570 Kilometer von Cebu entfernt ist, sei zu weit von zu Hause entfernt, besonders für ein Einzelkind wie sie.

Inspiriert von dem Film „Eine Frage der Ehre" wollte sie unbedingt Rechtsanwältin werden. Mit ihrer Entscheidung, keine lukrative Karriere als Anwältin im Finanz- und Unternehmensbereich  anzustreben, sondern stattdessen eine „alternative Anwältin“ zu werden, setzte sie sich ihre eigenen Maßstäbe für den persönlichen Erfolg.

„,Du kannst nicht mit der Wahrheit umgehen‘ ist ein berühmter Satz im Film ‚Eine Frage der Ehre‘. Das war bei mir an der juristischen Fakultät der Fall. Die Wahrheit ist, dass es so anstrengend war, dass ich immer wieder Zweifel daran hatte, ob ich weitermachen sollte", verriet Alvarez.

Aber sie war beharrlich, und bevor sie ihr drittes Studienjahr begann, nahm sie am Praktikumsprogramm des Ateneo Human Rights Center (AHRC) teil, das sie 1998 in die Provinz Quezon führte. Hier sollte sie mit dem Stamm der Dumagat, einer Gruppe indigener Völker, leben. Sie erinnert sich noch heute daran, wie beschwerlich die Reise war. Ihre Gruppe musste den Pazifik durchqueren, um die ethnische Gemeinschaft zu erreichen. „Als es Zeit war vom Boot zu steigen, rutschte ich ab und fiel ins Wasser. Dann mussten wir die Berge hinauf, während ich noch tropfnass war", erzählte Alvarez.

Das Eintauchen in die Dumagat-Gemeinschaft bedeutete, unter einfachsten Bedingungen zu leben. Alvarez und ihre Mitreisenden wohnten gemeinsam in einer kleinen Behausung – der Raum, in dem sie aßen, war der gleiche Bereich, in dem sie schliefen. Zum Waschen nahmen ein Bad im Fluss, wo sie sich vor Blutegeln in Acht nehmen mussten.

Für Alvarez war der denkwürdigste Teil dieses Abenteuers aber die Auseinandersetzung mit den Landrechtsproblemen der Dumagats: Die Bergbauaktivitäten der großen Konzerne vertrieben sie aus ihrem Land, weg von ihren angestammten Gebieten.

„Wir kümmerten uns um die Landrechte der Ureinwohner. Wir haben gelernt, mit Gemeinschaftsvertretern zu arbeiten, die keine juristische Vorbildung hatten, aber über praktische Kenntnisse und Erfahrungen verfügten", erklärt Alvarez. „Es war eine lebensverändernde Lektion in Demut und Vertrauen: Wir als Jurastudenten und später als Anwälte können nur auf der Grundlage unseres Rechtsverständnisses Ratschläge erteilen. Wir müssen Vertrauen in die Individuen und Gemeinschaften haben, dass sie dann auf dieser Basis entscheiden werden, was für sie das Beste ist".

Das Praktikumsprogramm öffnete ihr auch die Augen für die Wahrheit, dass Recht haben nicht unbedingt mit Recht bekommen gleichzusetzen ist. Dies stärkte ihre Entschlossenheit, eine alternative Rechtsanwältin zu werden und sich für die Interessen des Allgemeinwohls einzusetzen.

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Lerne das Gesetz, diene den Menschen

Der AHRC hat erkannt, dass Jurastudenten einen großen Beitrag dabei leisten können, Menschenrechtsverletzungen und den fehlenden Zugang zur Justiz zu bekämpfen. In der mehrwöchigen praktischen Phase des Programms werden Praktikanten bei gefährdeten Gruppierungen (z.B. bei indigenen Völkern, Fischern, Bauern) eingesetzt, um das Leben in marginalisierten und von Armut geplagten Gebieten aus erster Hand kennen zu lernen. Sie führen Schulungen in diesen Gemeinschaften durch und beteiligen sich später an der Lobbyarbeit für Rechts- und Politikreformen und unterstützen diese Gemeinschaften bei ihren Rechtsstreitigkeiten .

Ateneo hat das Programm 1987 ins Leben gerufen. „Was wir hier tun, ist die Saat der Liebe zu den Menschenrechten in die Köpfe junger Praktikanten zu pflanzen, die später Anwälte werden ", betonte AHRC-Geschäftsführer Arpee Santiago. Er zitierte auch den ehemaligen philippinischen Präsidenten Ramon Magsaysay, der sagte: „Wer weniger im Leben hat, sollte mehr im Recht haben".

Viele Anwälte, die am AHRC-Praktikumsprogramms teilgenommen haben, sind anschließend im Bereich des Allgemeinwohls tätig. Sie arbeiten zu gemeinnützigen Bedingungen (pro bono), um den Armen und Ausgegrenzten zu dienen.

Heute ist Alvarez Geschäftsführerin ihrer Organisation StreetLawPh. Sie leitet eine Gruppe philippinischer Anwälte, die sich mit der Stigmatisierung und Entmenschlichung von Drogenkonsumenten beschäftigt. Der gegenwärtige Drogenkrieg auf den Philippinen, der Tausende von Opfern außergerichtlicher Tötungen gefordert hat, hat sie dazu gebracht, sich noch aktiver und lautstarker für die Menschenrechte einzusetzen.

Alvarez gab zu, dass sie sich manchmal frage, warum sie sich entschied, eine alternative Anwältin zu werden. „Es gab Gelegenheiten, bei denen ich mich fragte, ob ich immer noch das Richtige tue", sagte sie und brach in Tränen aus, als sie über ihre Familie sprach und wie sie ihre Erwartungen, ihnen ein besseres Leben zu geben, enttäuschen haben musste. „Ich besitze immer noch kein Auto oder Haus, und das ist okay. Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, dass ich meine eigenen Maßstäbe für den Erfolg habe. Eine erfolgreiche Anwältin zu sein bedeutet für mich, frei zu sein und anderen zu helfen, frei zu werden."

Bei diesen Worten formte sich Alvarez' Mund zu einem Lächeln, die Lippen immer noch rot vom Lippenstift.  

Die Friedrich-Naumann-Stiftung für Freiheit unterstützt seit den 1990er Jahren die Arbeit der AHRC und insbesondere ihr Praktikantenprogramm. Die Stiftung hat eine Reihe von Alumni des Programms, darunter auch die Rechtsanwältin Cathy Alvarez, in die International Academy for Leadership (IAF) nach Gummersbach eingeladen, wo sie sich mit anderen Menschenrechtsaktivisten auf der ganzen Welt vernetzen können.

Minnie Salao arbeitet als regionale Kommunikationsreferentin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit für Südost- und Ostasien im Büro Manila