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Ungarn
Der neue Notstand in Ungarn

Der ungarische Premierminister Viktor Orbán

Der ungarische Premierminister Viktor Orbán

© picture alliance / ZUMAPRESS.com | Filip Radwanski

Was seinen Machterhalt angeht, kann sich der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán nicht beklagen. Seine Partei Fidesz hat vor Kurzem die vierte Parlamentswahl in Folge gewonnen und dies zudem mit einer Zweidrittelmehrheit. Diese hält und nutzt die Fidesz-Regierung bereits seit 2010 für seine Zwecke. Eine der ersten Maßnahmen des neuen Parlaments war nun die Einführung eines neuen Notstands, begründet durch den Krieg in der Ukraine, welcher der Regierung außerordentliche Vollmachten erteilt. Dieser Mechanismus ist für Ungarn nichts Neues, denn er wurde bereits während der Covid-19-Pandemie eingesetzt. Es stellt sich jedoch die Frage, warum eine neue Regierung, welche die Wahlen haushoch gewonnen hat, diese Sonderrechte benötigt?

Fidesz als großer Beschützer vor äußeren Einflüssen

Anfang April fanden in Ungarn Parlamentswahlen statt. Regierungskritiker hatten dabei große Hoffnungen, dass die Opposition nach 12 Jahren Fidesz-Herrschaft eine Chance haben könnte. Die Oppositionsparteien, die sich auf eine Koalition geeinigt hatten, führten Vorwahlen durch und wählten die beliebtesten Kandidaten aus. Die Opposition wurde von einem Kandidaten angeführt, der keiner Partei angehörte und somit nicht unter dem negativen Stigma litt, das Oppositionspolitikern anhaftet. Selbst die pessimistischsten Analysten waren sich größtenteils einig, dass die Regierungspartei Fidesz dieses Mal keine Supermajorität erreichen würde. Doch sie irrten sich. Der Wahlkampf der Opposition war geprägt von den Wahlgesetzen, welche die amtierende Regierung begünstigen, sowie von internen Konflikten und einfallslosen Versprechungen, die bei den Wählern keine Begeisterung auslösten. Die Opposition hatte nicht im Blick, dass Fidesz entgegen aller ihrer Bemühungen etwas versprach, das in Zeiten von Krieg, Inflation und Unsicherheit bei den Wählern deutlich mehr Anklang fand: Schutz und Stabilität.

Viktor Orbán und seine Partei haben klugerweise erkannt, dass, was auch immer geschieht, egal wie sehr die Korruption im Lande wuchert, egal wie sehr die Wirtschaft aufgrund der oligarchischen Politik in Schieflage gerät, egal wie sehr sich die internationale Gemeinschaft um den Zustand der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn sorgt, es zuletzt immer auf die Wahrnehmung ankommt. Wenn es der Regierung gelingt, die Tatsachen zu verdrehen und das Narrativ zu bestimmen, indem sie alle guten Entwicklungen Fidesz zuschreibt, und alle schlechten dem Einfluss externer Kräfte wie der Opposition, der EU, den Geflüchteten oder dem Krieg in der Nachbarschaft, dann kann sich Fidesz als großer Beschützer aufspielen, der die Menschen so gut wie möglich vor diesen bösartigen äußeren Kräften schützt. Der neue Kriegsnotstand muss aus dieser Perspektive betrachtet werden. Sein Hauptnutzen liegt nicht in der außerordentlichen rechtlichen Ermächtigung, sondern in der Möglichkeit, eine äußere Macht zu beschuldigen, vor der Fidesz die Ungarn schützen kann.

Seitdem Fidesz in 2010 nach einer kurzen Pause wieder an die Macht kam, wird in der Kommunikation der Regierung immer mindestens ein Feind ausgemacht. Das ist kein neues Konzept, denn der deutsche Politiktheoretiker Carl Schmitt erkannte bereits, dass sich Politik als eine Unterscheidung zwischen Freund und Feind zusammenfassen lässt. Die Identifizierung eines Feindes, der die aktuelle Existenz einer Gruppe von Menschen bedroht, kann diese Menschen gegen die äußere Bedrohung vereinen und ist somit ein starkes politisches Instrument.

Fidesz hat über die Jahre viele Feinde identifiziert, welche die Lebensweise der Ungarn verändern wollen und somit bedrohen. Migranten, die kulturell inkompatibel sind, der in Ungarn geborene amerikanische Milliardär und Philanthrop George Soros, der die Opposition unterstützt, damit seine Vorstellungen von einer freien Gesellschaft verwirklicht werden und nicht die christlich-konservative Gesellschaft, die Fidesz zu erhalten vorgibt. Und dann ist da noch die Europäische Union, die laut Orbán Ungarn ihre Vorstellungen von Demokratie aufzwingen will, oder die Opposition, die den Armen die Sozialleistungen wegnehmen und die Jugend an die Front in der Ukraine schicken will. Die Regierung nutzt diese propagandistischen Botschaften, um den Menschen zu zeigen, wie die Regierung die Ungarn vor diesen "Schrecken" schützt und wie die derzeitige Sicherheit der Menschen erschüttert würde, wenn eine andere Regierung an die Macht kommt.

Der Notstand als Lockvogel

Auch die gesetzliche Anerkennung einer externen Gefahr ist in Ungarn nicht neu. Ein Krisenzustand aufgrund von Massenmigration wurde während der Migrantenkrise bereits eingeführt und verlängert, auch wenn die Zahl der Migranten dies nicht rechtfertigte. Darüber hinaus wurde während der Pandemie ein Gefahrenzustand eingeführt, welcher der Regierung das Recht gab, durch Dekrete zu regieren. Dies führte zu einer verstärkten Verfolgung und Unterdrückung der freien Medien und der Verbreitung von staatlich getriebener Desinformation.

Der derzeitige Kriegsnotstand, der am 25. Mai in Kraft getreten ist und zunächst 15 Tage andauern wird, gibt der Regierung die außerordentliche Erlaubnis, durch Dekrete zu regieren und die Anwendung bestimmter Gesetze auszusetzen. Zur selben Zeit wird der Covid-19-Gefahrenzustand am 1. Juni auslaufen.

Der neue Gefahrenzustand konzentriert sich auf die aktuellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten und macht die EU sowie den Krieg in der Ukraine dafür verantwortlich. Um dies zu kompensieren, kündigte die Regierung nun an, dass die "Extraprofite der großen Unternehmen und Banken" gestrichen werden und das somit freigewordene Budget zum Schutz der von der Regierung verordneten Preissenkungen für die Haushalte (z. B. bei Gas und Strom) sowie dem Militär zugutekommen soll.

Dies sind Maßnahmen, die die Regierung mit ihrer Mehrheit einfach hätte einführen können. Um jedoch die wirtschaftliche Einmischung besser rechtfertigen zu können, musste eine kodifizierte externe Kraft in die Waagschale geworfen werden. Der Kriegsnotstand ist somit ein doppeltes Ablenkungsmanöver. Einerseits kann Fidesz von seinen Fehlern ablenken, indem er die Schuld auf externe Kräfte schiebt. Andererseits werden sich die Aktivisten zwar über die Auswirkungen aufregen (was nicht unberechtigt ist), aber die Debatte wird sich eher auf den Notstand als auf die Maßnahmen konzentrieren, die ihm angelastet werden. Wie die Maßnahmen eingeführt werden, wird daher für die Kritiker wichtiger sein als das, was sie bewirken.

Schließlich ist Fidesz ein Meister der Kommunikation, und mit dem neuen Kriegsnotstand hat die Regierungspartei wieder einmal einen Volltreffer gelandet: Neue Gesetze können verabschiedet und auf die „externe Gefahr“ geschoben werden. Der Kriegsnotstand sollte daher eher als ein Kommunikationsinstrument und nicht als ein politisches Hilfsmittel betrachtet werden. Unglücklicherweise drohen die erweiterten Regierungsbefugnisse jedoch die ohnehin schon ramponierte Rechtsstaatlichkeit in Ungarn zu gefährden. Dabei zeigt die Vergangenheit uns, dass obgleich Fidesz diesen Notstand noch nicht missbraucht hat, hier noch alle Möglichkeiten offenbleiben.

Máté Hajba ist der Leiter der ungarischen Free Market Foundation, die sich für wirtschaftliche Freiheit, Bürgerrechte und Toleranz einsetzt. Er ist außerdem Vizepräsident der Civic Platform, die antirassistische Kampagnen durchführt und demokratische Werte fördert. Er interessiert sich für die Beziehung zwischen Staat und Individuum sowie für das Konzept und die Geschichte der Freiheit. Er schreibt für die internationale Presse über Themen wie Intoleranz in Ungarn und internationale Beziehungen. Um das Konzept des Individualismus, der Freiheit, der Toleranz und des freien Marktes zu fördern, hat er eine Jugendorganisation namens Eötvös Club mitbegründet.