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Wahlen in Argentinien
Liberale dürfen hoffen

Argentinien vor Parlaments- und Senatswahlen
Stimmabgabe Buenos Aires
In einer Schule in Buenos Aires, Argentinien, geben die Menschen am 12. September 2021 ihre Stimme bei den Vorwahlen ab, der ersten Phase der Abgeordneten- und Senatswahlen, in der die Kandidaten für die parlamentarischen Positionen auf Provinz- und nationaler Ebene bestimmt werden. © picture alliance / AA | Muhammed Emin Canik

Zwei Monate nach den Vorwahlen sind die Argentinier am kommenden Sonntag neuerlich zu den Wahlurnen gerufen. 127 der 257 Abgeordneten der Cámara de Diputados (zu Deutsch: Abgeordnetenhaus) sowie 24 der 72 Senatorinnen und Senatoren werden neu bestimmt, die Abgeordneten für vier, die Senatsvertreter für sechs Jahre. Jede Provinz schickt drei Senatoren in den Senat nach Buenos Aires, unabhängig von ihrer Größe. Im Falle der Cámera hingegen orientiert sich die Anzahl der Mitglieder an der Einwohnerzahl der Provinz. Gewählt wird ferner ein Teil der Provinzparlamente und -senate, der Gouverneure und Bürgermeister.

In Argentinien schließen sich die Parteien in Wahlkampfzeiten, aber auch in den Parlamenten häufig zu Allianzen zusammen, aus Gründen der Erhöhung der Wahrnehmbarkeit und Schlagkraft. Die Vorwahlen am 12. September hatte das peronistische Bündnis „Frente de Todos“ (FdT, frei übersetzt: „Volksfront“), das auch den Staatschef und die Regierung stellt, krachend verloren. Das Ergebnis war die Quittung für eine Anti-Covid-Politik, die vor allem auf Beschränkungen, Verbote und Gängeleien gesetzt hatte, und deren wirtschaftliche Konsequenzen auch die eigene Anhängerschaft getroffen hatte. Viele Umfragen deuten darauf hin, dass auch die eigentlichen Wahlen am Sonntag mit einer Niederlage für FdT enden wird. Unklar ist derzeit eigentlich nur noch, wie dramatisch der Absturz ausfällt.

Plötzlich keine Mund-Nasen-Bedeckung mehr

Die wirtschaftliche Situation ist ernster denn je. Die jährliche Inflationsrate liegt bei gut fünfzig Prozent. Auf dem Schwarzmarkt ist die Landeswährung, der argentinische Peso, kaum noch etwas wert. Auf die Abstrafung durch die Wähler im September hat die Regierung schnell reagiert. Preiskontrollen wurden eingeführt, auf der Straße mussten plötzlich keine Mund-Nasen-Bedeckung mehr getragen werden. Auch der internationale Flugverkehr normalisiert sich nach anderthalb Jahren strenger Einschränkungen seit Mitte Oktober wieder. Die Wut der Menschen hat all das bislang nicht wirklich dämpfen können.

Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit dürften am Sonntag die Ergebnisse vor allem in der Hauptstadt Buenos Aires und der gleichnamigen Provinz stehen. Rund zwanzig Millionen Menschen und damit knapp die Hälfte der rund 45 Millionen Argentinierinnen und Argentinier leben hier. Ähnlich wie in den deutschen Bundesländern treten die Parteien und Parteienbündnisse in den einzelnen Provinzen und in der über einen provinzähnlichen Status verfügenden Hauptstadt mit eigenen Listen an.

Hohe Popularität in den liberalen Milieus der Hauptstadt

In der Stadt Buenos Aires hat der Peronismus traditionell einen schweren Stand. Als so gut wie ausgemacht gilt es, dass die größte der oppositionellen Allianzen, Juntos por el Cambio (JC, „Gemeinsam für den Wechsel“), als Siegerin vom Platz geht. Bei den Vorwahlen war sie noch mit drei verschiedenen Listen angetreten, eine angeführt von María Eugenia Vidal, Ex-Gouverneurin der Provinz Buenos Aires, die zweite von Ricardo López Murphy, ehemaliger Wirtschafts- und Verteidigungsminister, die dritte von Ex-Gesundheitsminister Adolfo Luis Rubinstein. Zusammen hatten die drei JC-Listen knapp die Hälfte aller Stimmen auf sich vereint.

Bei den Wahlen am Sonntag tritt JC mit nur noch einer Liste an. Jüngste Umfragen sehen sie bei leicht über fünfzig Prozent. Vidal steht auf Patz eins, auf Platz vier López Murphy, langjähriger FNF-Partner und vormaliger Vorsitzende von RELIAL (Red Liberal de América Latina; Liberales Netzwerk Lateinamerika). López Murphys Liste hatte im September noch gut zwölf Prozent gewonnen, ein Erfolg, der vor allem auf seine hohe Popularität in den liberalen Milieus der Hauptstadt zurückzuführen ist. Diesmal aber ist López Murphy Teil der Einheitsliste der weltanschaulich äußerst heterogenen JC-Allianz. Er muss befürchten, dass viele Liberale diesmal für die konkurrierende Liste des Populisten Javier Milei votieren.

Javier Milei bei der Abschlussrede seines Wahlkampfs
Javier Milei bei der Abschlussrede seines Wahlkampfs. © picture alliance / Pacific Press | Esteban Osorio

Extrovertierte Fernsehauftritte

Milei ist ein umstrittenes Phänomen*. Der libertäre Wirtschaftswissenschaftler, der die Liste La Libertad Avanza („Die Freiheit geht voran“) anführt, hat sich in den zurückliegenden Jahren einen Namen gemacht durch seine Omnipräsenz in den sozialen Medien und seine - selbst für das eher leidenschaftliche Argentinien – extrovertiert-populistischen Fernsehauftritte. Er gibt dabei gerne den Volkstribun, der gegen den aufgeblähten Staatssektor und die Allmacht der Zentralbank wettert, und den berserkerhaften Kämpfer gegen das verkrustete peronistische Establishment, das die Unabhängigkeit der Justiz, die freie Presse und die Eigentumsrechte mit Füßen tritt. Vor allem unter den inflationsmüden, sozial verunsicherten und internetaffinen Millenials und Post-Millenials erfreut er sich wachsenden Zuspruchs.

Milei könnte sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Leandro Santoro liefern, der die Peronisten-Liste in der Hauptstadt anführt. In jüngsten Umfragen kommt Santoro auf 24, Milei auf 17 bis 18 Prozent, Tendenz steigend. Gelänge es Milei, den Peronismus in der Stadt Buenos Aires auf Platz drei zu verweisen, käme das einem politischen Erdbeben gleich. Er wäre die Identifikationsfigur einer breiteren Wählerschicht jenseits des peronistischen Lagers, aber aufgrund seines Populismus auch weiter umstritten.

Auch in der Provinz nicht geschlossen marschiert

Auch in der Provinz Buenos Aires, eigentlich eine seiner Hochburgen, stehen die Chancen für den Peronismus schlecht, die Stimmung in den wenigen Tagen bis zur Wahl noch zu seinen Gunsten zu drehen. Schon bei den Vorwahlen erhielt die FdT-Liste nur rund 35 Prozent. Jüngste Umfragen haben für Sonntag einen ähnlichen Wert ermittelt. JC wiederum war auch in der Provinz nicht geschlossen marschiert. Die beiden Listen, mit denen das Bündnis im September angetreten war, hatten zusammen vierzig Prozent geholt. Am Sonntag gibt es nur noch eine JC-Liste, angeführt von Diego Santilli, bis Juni stellvertretender Bürgermeister von Buenos Aires. Die meisten Umfragen sehen seine Liste bis zu zehn Prozent vor den Peronisten.

Wie in der Stadt Buenos Aires tritt der Liberalismus auch in der Provinz mit einer eigenen Mannschaft an: mit der separaten Liste des Wirtschaftswissenschaftlers José Luis Espert. Im September hatte sie viereinhalb Prozent geholt. Aktuelle Umfragen sehen sie bei zwischen sechs und sieben Prozent. Sollte das Ergebnis dieser Erhebung entsprechen, würden Espert und die Zweitplatzierte seiner Liste in die Cámara in Buenos Aires einziehen.

Parteienspektrum könnte sich völlig neu sortieren

Nach der Wahl ist vor der Wahl. Schon jetzt hat das politische Buenos Aires das Jahr 2023 im Blick, wenn auch das Staatsoberhaupt gewählt wird. Milei hat dieser Tage erklärt, er sei bereit, für 2023 über ein Bündnis mit Mauricio Macri, Präsident von 2015 bis 2019, und dessen damaliger Kabinettskollegin, Ex-Sicherheitsministerin Patricia Bullrich, nachzudenken. Würde Macri darauf eingehen, könnte sich das Parteienspektrum jenseits des Peronismus und einiger linkssektiererischer Gruppen völlig neu sortieren.

Der Weg bis 2023 ist weit und steinig. Umso wichtiger ist erst einmal, dass die Gruppe liberaler Abgeordneter in der Cámara am Sonntag wächst. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht.

*Die Stiftung distanziert sich von Inhalt und Politikstil von Javier Milei, da sie nicht dem Liberalismus-Verständnis der Stiftung entsprechen.