EN

Kosovo
"Die EU ist unsere Zukunft!"

Neuwahlen im Kosovo - Fragen an Außenminister Behgjet Pacolli
Mr. Pacolli

Am 06. Oktober werden im Kosovo vorgezogene Parlamentswahlen stattfinden. Nach dem Rücktritt von Regierungschef Ramush Haradinaj am 19. Juli aufgrund einer Vorladung vor ein Sondergericht in Den Haag zur Ahndung von Kriegsverbrechen während des Kosovokrieges 1998/99 war dieser Schritt notwendig geworden. Eine halbe Legislatur währt nun die Amtsperiode der Regierung, an der auch die liberale „Neue Allianz Kosovos“ (AKR) beteiligt ist. Ihr Vorsitzender, der erste stellvertretende Premierminister und Außenminister, Behgjet Pacolli, zieht im Interview mit der Stiftung eine vorläufige Bilanz und beschreibt die zentralen nationalen und internationalen Herausforderungen seines Landes. Am Ziel der euro-atlantischen Integration lässt er keine Zweifel aufkommen, verschont die EU aber auch nicht mit Kritik. Vor allen Dingen müsse sie ihre Versprechen und Zusagen einhalten. Die zögerliche Haltung etwa bei der Umsetzung der Visaliberalisierung hält er für strategisch falsch, die Reaktion der EU und ihrer Mitgliedsstaaten bezüglich der zahlreichen Kampagnen Serbiens gegen sein Land für unverständlich.
 
Herr Minister, vorgezogene Wahlen sind im Kosovo keine Seltenheit. Entscheidend wird sein, ob Neuwahlen klarere Mehrheitsverhältnisse erbringen oder erneut ein fragmentiertes Parlament mit langen Koalitionsverhandlungen. Womit rechnen Sie?

Pacolli: Der Rücktritt von Premierminister Haradinaj hat eine neue politische Realität geschaffen. Nun geht es darum, durch Wahlen die Zustimmung des Volkes für eine neue Regierung zu erhalten. Ich habe den Vorschlag, vorgezogene Parlamentswahlen abzuhalten, von Anfang an unterstützt. Sie bieten die beste Möglichkeit, beim Volk für Unterstützung für all die wichtigen Prozesse zu werben, die dem Land in den nächsten Monaten und Jahren bevorstehen.

Fürchten Sie nicht, dass sich auch im neuen Parlament keine klaren Mehrheiten finden?

Es ist wichtig, dass die Wahlen zeigen, dass der Kosovo eine lebendige Demokratie ist, die darauf abzielt, die Interessen der Menschen aufzunehmen und ihr Streben nach euro-atlantischer Integration erfüllen. Die politischen Parteien - einschließlich die AKR – müssen nun offen und konstruktiv miteinander umgehen, um unmittelbar nach den Wahlen eine Regierung bilden zu können. Die Regierungsbildung aus parteipolitischen oder -taktischen Zwecken hinauszuzögern, wäre dem Land nicht dienlich. Ich glaube aber, dass die politischen Führungen aller Parteien genug Reife zeigen und persönliche Interessen zum Wohle des Landes hintanstellen werden.

Beabsichtigen Sie mit der AKR wieder in einem Wahlbündnis mit anderen Parteien anzutreten, oder werden Sie sich die Partnerwahl bis zum Schluss offenhalten?

Wir haben gezeigt, dass im Zentrum unserer Politik das Wohl der Menschen und die Interessen des Landes stehen. Wir waren Teil einer Regierung, welche die Bereitschaft gezeigt hat, sich mit wichtigen und herausfordernden Themen für den Kosovo zu befassen. Und wir haben dabei eine konstruktive und pragmatische Rolle gespielt, um auch Brücken zwischen Regierung und Opposition zu bauen. Wir werden bei diesen Wahlen mit einem konkreten Programm antreten, mit einer Vision für wirtschaftliche Entwicklung, Investitionen, neue Arbeitsplätze, eine europäische Sozial- und Gesundheitspolitik, euro-atlantische Integration und Korruptionsbekämpfung. Dies werden die wichtigsten Politikfelder sein, die wir vorantreiben wollen.

… und werden Sie im Rahmen eines Wahlbündnisses antreten?

Wir sind in einer Koalition mit NISMA, einer sozialdemokratisch orientierten Partei, um eine entscheidende Rolle bei der Regierungsbildung zu spielen. Wir werden der Hauptakteur bei der Bildung der neuen Regierung sein. Die AKR hat traditionell auch eine große programmatische Nähe zur Demokratischen Liga des Kosovo (LDK). Wir haben aber keine roten Linien zu einer zukünftigen Regierungskoalition, denn wenn die Bürger für eine Partei stimmen, dann müssen wir als politische Parteien Brücken finden, um eine Regierung zu bilden, die den Interessen der Menschen dient und sich den Herausforderungen des Landes stellt.

Seit 11 Jahren ist der Kosovo ein unabhängiger Staat. Den Prozess der internationalen Anerkennung zu beschleunigen, war und ist das Ziel Ihrer Regierung. Sie selbst haben sich bereits vor Ihrer Zeit als Minister um die internationale Anerkennung des Kosovo durch ganz persönlichen Einsatz verdient gemacht. Nun haben einige Staaten ihre Anerkennung des Kosovo wieder ausgesetzt. Wie bewerten Sie das?

Die Anerkennung des Kosovo ist ein unaufhaltsamer Prozess. Es gab keine Rücknahme oder Aussetzung der Anerkennung, sondern eine "Dollar-Diplomatie" Serbiens, um Beamte zu bestechen, um gefälschte diplomatische Noten auszustellen. Die betroffenen Staaten haben der sogenannten Aufhebung der Anerkennung widersprochen. Liberia gab eine Erklärung ab, Guinea-Bissau und Burundi entließen ihre Premierminister und Außenminister. Andere Länder luden unmittelbar unsere Botschafter oder auch mich selbst ein und gaben entsprechende Empfehlungsschreiben ab wie zum Beispiel Gambia, Somalia, Swaziland.
 

Wie reagiert der Kosovo darauf?

Seit Beginn meiner Tätigkeit stand ich vor dieser herausfordernden Kampagne aus Belgrad, der wir aber erfolgreich begegnet sind. Allerdings fährt Serbien damit fort. Nun gilt meine Sorge weniger Serbien als der EU und ihren Mitgliedsstaaten: Was tun sie, um dies künftig zu verhindern? Bisher gibt es keine öffentliche Reaktion auf diese Aktionen und keine Verurteilung, dass ein EU-Bewerberland Bestechungsgelder bzw. Korruption für außenpolitische Zwecke einsetzt. Für mich ist das die entscheidende Frage.

Auch beim anvisierten Beitritt zu internationalen Organisationen wie Interpol geht es nur langsam voran. Wie bewerten Sie die Lobbyanstrengungen Serbiens gegen Kosovo Etablierung in der internationalen Arena?

Das Umfeld ist schwierig für den Kosovo, und es gibt viele Faktoren, die den Interpol-Mitgliedschaftsprozess beeinflusst haben; etwa die Tatsache, dass die liberalen Demokratien, zu denen der Kosovo gehört, auf der internationalen Bühne nicht so stark sind und dass es viele internationale Krisen gibt, die die Aufmerksamkeit vom Kosovo abziehen. Und nicht zuletzt fehlt bis heute ein rechtsverbindliches Abkommen zwischen Serbien und dem Kosovo, das die schwierigen Beziehungen beenden und eine neue Perspektive für eine friedlichere und stabilere Region eröffnen würde.

Sind Sie enttäuscht, dass die Etablierung des Kosovo auf dem internationalen Parkett so mühsam und langsam voranschreitet?

Ich stimme nicht zu, dass die Mitgliedschaften langsam voranschreiten. Erst im vergangenen Jahr haben wir den Status des Kosovo in der Internationalen Organisation der Frankophonie vom Beobachterstaat zum assoziierten Mitglied mit vollem Konsens verbessert. Wir haben den serbischen Bestrebungen, oft unterstützt von Russland und China, für Kosovo den Mitgliedstatus in Organisationen zu blockieren, entgegengewirkt, etwa was die Arbeit in der Weltzollorganisation betrifft. Es wurden auch andere Mitgliedschaften erreicht, die die Position des Kosovo gestärkt haben, und ich bin stolz auf die Erfolge, die wir in einer herausfordernden Zeit und unter schwierigen Rahmenbedingungen erreicht haben.

Seit der Verhängung 100-prozentiger Einfuhrzölle auf Importe aus Serbien sind die ohnehin schleppend verlaufenden Normalisierungsverhandlungen zwischen Serbien und Kosovo nahezu vollständig zum Erliegen gekommen. International hat Ihnen dies viel Kritik eingebracht. War er aus Ihrer Sicht – rückblickend – dennoch richtig?

Die Zölle, obwohl sie grundsätzlich nicht der Wunsch des Kosovo sind, waren das letzte Mittel, um die serbischen Aktionen gegen den Kosovo zu stoppen. Sie waren die direkte Antwort des Kosovo auf die diplomatische Kampagne Serbiens gegen unser Land und auf Belgrads beschämende Propaganda- und Fake-News-Kampagne. Wir haben gehandelt, weil wir gezwungen waren, zu handeln.

Aber was sagen Sie zu den negativen Reaktionen der EU?

Niemand hat Serbien Einhalt geboten, weder die EU noch ihre Mitgliedstaaten. Die Tarife sind kein Dialoghindernis. Die serbische Kampagne hat den Dialog behindert und die Zölle erzwungen. Präsident Vucic reiste beispielsweise im September 2018 nicht zu einem Treffen mit Präsident Thaci, das von der EU-Außenbeauftragten Mogherini einberufen worden war. Das war bevor die Zölle erhoben wurden. Das zeigt: Serbien war nicht wirklich an einem Dialog und der Normalisierung der Beziehungen interessiert. Die Zölle müssen daher so lange gelten, bis Serbien eine konstruktive Haltung an den Tag legt und zum Dialog zwischen zwei unabhängigen und souveränen Staaten mit voller gegenseitiger diplomatischer Anerkennung zurückkehrt.

Vor dem Hintergrund der anstehenden Parlamentswahlen im Kosovo und in Serbien (Frühjahr 2020) ist kurzfristig kaum mit Fortschritten zu rechnen. Welche Schritte wären notwendig, um dem festgefahrenen Dialog mit Serbien neue Impulse zu geben?

Serbien muss ohne Bedingungen zum Dialog zurückkehren. Es muss die diplomatische und propagandistische Kampagne gegen den Kosovo beenden und die Verhaftungen kosovarischer Bürger stoppen. Serbien hat es bisher versäumt, 70 Prozent der Brüsseler Auflagen umzusetzen und schafft immer wieder neue Hindernisse. Es hat während des Prozesses destruktiv gehandelt, und das muss sich ändern. Der Kosovo ist jederzeit bereit, den Dialog wieder aufzunehmen. Der serbische Stuhl in Brüssel ist leer, nicht der des Kosovo. Wir verstecken uns nie oder weichen dem Dialog aus.

Auf serbischer Seite wird immer wieder die Furcht vor einem Großalbanien artikuliert. Wie sehen Sie das Verhältnis von Kosovo und Albanien? Halten Sie eine Staatsfusion langfristig überhaupt für möglich oder eher für ausgeschlossen?

Kosovo und Albanien haben brüderliche Beziehungen als zwei unabhängige und souveräne Staaten. Kosovo und Albanien werden ihre Zusammenarbeit und Integration genauso vertiefen wie die nordischen und Benelux-Länder, nicht mehr und nicht weniger. Die Albanophobie, die im öffentlichen Diskurs in Belgrad und einigen anderen Hauptstädten herrscht und hauptsächlich von Moskau verstärkt wird, um Angst und Destabilisierung in der Region zu schüren, hat mit der Realität nichts zu tun. Kosovo und Albanien sind schon wegen des mit der EU unterzeichneten Stabilisierungsabkommens verpflichtet, gutnachbarschaftliche Beziehungen aufzubauen. Das ist es, was wir tun: Zusammenarbeit im europäischen Geiste.

Die Aufhebung der Visapflicht bei Reisen in den Schengen-Raum ist ein schon länger verfolgtes Ziel Ihrer Politik. Nach Meinung der Europäischen Kommission hat Kosovo die Voraussetzungen dafür auch schon länger erfüllt. Woran scheitert aus Ihrer Sicht die Umsetzung? Was hören Sie von Ihren europäischen Gesprächspartnern?

Die Europäische Kommission hat erklärt, dass der Kosovo die Voraussetzungen erfüllt hat, um die Visaliberalisierung mit der EU umzusetzen, die andere Länder des westlichen Balkans bereits genießen. Der Vorschlag muss jedoch von allen 28 Mitgliedstaaten angenommen werden. Es ist ungerecht gegenüber der Bevölkerung des Kosovo, dass man wegen der politischen Herausforderungen in Europa hier offensichtlich nicht weiterkommt. Kosovo ist das einzige Land in Europa ohne Visaliberalisierung. Wenn sich dieser Prozess weiter verzögert, wird die Bedeutung und das Image der EU bei den Menschen im Kosovo erheblich an Wert verlieren.

Fürchten Sie, dass die Staaten des Westbalkans zum Opfer der Erweiterungsmüdigkeit in der EU sowie des Erstarkens populistischer Kräfte werden könnten?

Die Europäische Union kann und darf sich nicht zur Geisel einer kurzsichtigen und inländischen populistischen Politik machen, die keinen strategischen Nutzen für die EU und ihre Mitglieder hat. Die Perspektive der Integration wurde der gesamten Region 2003 auf dem Gipfel von Thessaloniki zugesagt. Die EU muss ihre Versprechen einhalten, sonst stärken dritte Akteure zunehmend ihren Einfluss in der Region. Einige Länder sind bereits darauf hereingefallen. Die EU ist unser wichtigster Partner und unser Schicksal. Für den Kosovo gibt es keine Alternative. Wir müssen mehr tun, um auch mit unserer Politik zu überzeugen. Aber entscheidend ist, dass die EU ihre Versprechen einhält, wenn wir die Bedingungen erfüllt haben. Der Prozess der Visaliberalisierung für den Kosovo ist ein schlechtes Signal und deutet darauf hin, dass die EU keine strategische Vision für die Region hat. Erforderlich ist aber strategische Politik in Brüssel und den Mitgliedstaaten.

Auf der anderen Seite wird befürchtet, dass ein Wegfall der Visapflicht den Exodus Ihrer Landsleute noch beschleunigen könnte. Viele junge und qualifizierte Leute haben aufgrund mangelnder Perspektiven das Land bereits verlassen. Welche Maßnahmen schlagen Sie vor, um gerade junge Menschen im Land zu halten?

Das ist ein Argument, das Populisten und diejenigen, die gegen die Visaliberalisierung sind, immer wieder vorbringen. Es ist aber falsch. Die Zahlen aus der EU zeigen, dass die illegale Migration aus dem Kosovo in die EU stark zurückgegangen ist. Diejenigen, die gehen wollen, tun dies mit legalen Mitteln. Abgesehen davon ist Migration Teil der Menschheitsgeschichte. Menschen werden sich immer fortbewegen, um bessere Arbeitsplätze und ein besseres Leben zu finden. Die Menschen ziehen von einem EU-Land ins andere. Das gehört zum Kern der EU selbst: die Freizügigkeit der Menschen. Wir als Kosovo müssen eine Politik entwickeln, die den Menschen einen fairen und offenen Zugang zu Arbeitsplätzen ermöglicht. Wichtig war aber auch, dass wir als Kosovo Instrumente zur Bekämpfung der illegalen Migration geschaffen haben, und das wurde von der EU auch anerkannt.

Im September sind Sie zwei Jahre als Außenminister und Vizepremier im Amt. Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Erfolge der scheidenden Regierung und wie bewerten Sie persönlich Ihre Bilanz als Außenminister?

Es waren zwei schwierige Jahre mit großen Herausforderungen. Ich war stolz darauf, den Außendienst des Kosovo in den letzten zwei Jahren zu leiten und mich für eine verbesserte Position des Kosovo in internationalen Organisationen und eine erweiterte diplomatische Präsenz einzusetzen. Wir haben viel erreicht und der aggressiven serbischen Kampagne gegen den Kosovo entgegenwirken können, oft ohne jegliche Hilfe. Und wir haben gezeigt, dass der Kosovo ein engagierter Partner der internationalen Gemeinschaft im Kampf gegen den Terrorismus ist. Viele Herausforderungen sind noch zu bewältigen. Der Kosovo wird weiterhin um seinen Platz als gleichberechtigter und vollwertiger Mitgliedstaat in der internationalen Gemeinschaft kämpfen. Für die Führung des Kosovo und die internationalen Partner geht es jetzt darum, für die kommenden Jahre einen Fahrplan mit konkreten Schritten zu entwickeln.

Die Fragen stellte Michael Roick, Leiter des Regionalprogramms in Belgrad. Die Antworten spiegeln die Meinung des Interviewten wider.