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Tschechien
Zwischen Populismus und Pragmatismus

Was die tschechischen Parlamentswahlen über Europas Zukunft verraten
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Andrej Babis

© picture alliance / Sipa USA | SOPA Images

Die tschechischen Parlamentswahlen, die am 3. und 4. Oktober stattfanden, gelten als Wendepunkt in der demokratischen Entwicklung des Landes. Mit einer bemerkenswert hohen Wahlbeteiligung von knapp 69 Prozent, der dritthöchsten seit 1996, setzten die Wähler ein deutliches Zeichen für das Vertrauen in die Demokratie. Gleichzeitig offenbart das Ergebnis eine tiefe Frustration über die Querelen innerhalb des demokratischen Lagers und das langsame Tempo politischer Reformen. Die populistische Bewegung ANO (Aktion unzufriedener Bürger) unter Führung des ehemaligen Premierministers Andrej Babiš – er regierte von 2017 bis 2021 – errang mit 34,5 Prozent der Stimmen einen klaren Sieg. Sie lag in allen 13 Regionen des Landes vorne, nur in Prag landete sie auf Platz zwei. Staatspräsident Petr Pavel, der den Regierungsauftrag erteilen muss, hat in den Tagen vor und nach der Wahl betont, dass er darauf achten wird, dass Tschechien seine proeuropäische und prowestliche Orientierung nicht verliert.

Babiš’ Wahlsieg markiert einen Kurswechsel hin zu einer populistischeren und EU-skeptischeren Politik. Seine Rückkehr an die Macht nach vier Jahren Opposition könnte eine konfrontativere Haltung gegenüber Brüssel mit sich bringen, insbesondere in Bezug auf den Green Deal, die Klimaziele und die Migrationsquoten. Er dürfte auch die militärische Unterstützung des Landes für die Ukraine reduzieren, was eine Abkehr von der klar pro-ukrainischen Politik der abgewählten Regierung von Ministerpräsident Petr Fiala bedeuten würde. Gleichzeitig gilt Babiš als Pragmatiker: Tschechien wird mit ziemlicher Sicherheit Teil der NATO- und der EU bleiben, auch wenn es künftig wohl eine zurückhaltendere Rolle in regionalen Initiativen rund um die Ukraine einnehmen dürfte.

Brot, nicht Ideologie: Die Gründe für Babiš’ Sieg

Der Erfolg von ANO verdeutlicht Babiš’  politisches Geschick und die Anziehungskraft der Anti-Establishment-Narrative in Mitteleuropa. Mit 80 von 200 Sitzen hat ANO seine Position als zentraler Pol der tschechischen Politik gefestigt. Die Gründe für Babiš’ Sieg liegen weniger in einer gefestigten politischen Weltanschauung als vielmehr in seiner Fertigkeit, die Alltagssorgen der Bürgerinnen und Bürger aufzugreifen. Sein Wahlkampf konzentrierte sich auf Inflation, Lebenshaltungskosten und die Frustration über die Elite – Themen, die bei Wählern Anklang fanden, die sich abgehängt fühlten.

Während Ministerpräsident Fiala und seine konservative Koalition SPOLU (Gemeinsam) sich im Wahlkampf auf Sicherheit, europäische Führung und unerschütterliche Unterstützung für die Ukraine konzentrierten, sprach Babiš die innenpolitischen und wirtschaftlichen Ängste der Menschen  an und rückte  Themen wie Preissteigerung, Energiekosten, Renten und Familien in den Mittelpunkt. Dieser Kontrast zwischen außenpolitischer Werteorientierung und innenpolitischer Bodenhaftung erwies sich als entscheidend.  Babiš’ Polemik, teils gegen das Establishment, teils gegen Brüssel, spiegelte den Ton von Donald Trumps Wahlkampf in den USA wider. Doch statt einer rein ideologischen Konfrontation verband Babiš wirtschaftlichen Nationalismus mit dem Versprechen von Effizienz und pragmatischer Regierungsführung.

Die Wahl war in ihrer Natur von einer Anti-Haltung geprägt – weniger für Babiš als gegen Fiala. Viele Tschechen waren die inneren Konflikte der Koalition aus anfänglich fünf, nach dem Rauswurf der Piraten-Partei im vergangenen Jahr immerhin noch vier, Parteien leid. Das Regierungsbündnis, tat sich oft schwer damit, sich auf wichtige Reformen zu einigen. ANO zog hingegen Wähler der Mitte als auch von den  politischen Rändern an: Sie nahm der rechtsextremen SPD (Freiheit und direkte Demokratie, nicht zu verwechseln mit der deutschen SPD) ebenso Stimmen ab wie dem linksextremen Bündnis Stačilo! (Genug!), das an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte. Umfragen wenige Tage vor der Wahl hatten beiden Parteien deutlich bessere Ergebnisse vorausgesagt – eine kleiner Hoffnungsschimmer.

Die Herausforderung der Regierungsbildung

Babiš’ Weg zur Regierungsbildung dürfte sich als steinig erweisen. Seine realistischen Partneroptionen sind zwei kleinere rechts- bis rechtsextreme euroskeptische Parteien – die Autofahrer und  die SPD. Beide lehnen den Green Deal der EU, den Emissionshandel (ETS2) und Migrationsquoten ab. Die Zusammenarbeit mit der SPD könnte sich aufgrund interner Spannungen als instabil erweisen. Auf der Wahlliste der SPD  standen auch Kandidaten der Parteien Trikolora, PRO und Svobodné, einer Mischung aus rechts- bis rechtsextremen Parteien, die sich vor allem in der Ablehnung von Migration, dem Green Deal und einer stärkeren EU-Integration einig sind, sich jedoch in der Wirtschafts- und Außenpolitik und ihrer teils radikalen Haltung zur NATO und EU unterscheiden, was ihr Bündnis eher taktisch macht. Jedes formelle Bündnis mit diesen Kräften würde Babiš’ wiederholtes Versprechen, Tschechien fest in der Europäischen Union und der NATO zu verankern – etwas, das er am Wahlabend bekräftigte – auf die Probe stellen. Dennoch hat Babiš auch seine Ambitionen geäußert, eine Einparteien-Minderheitsregierung zu bilden und sich dabei ausschließlich auf die externe Unterstützung dieser beiden Parteien zu verlassen, anstatt eine formelle Koalition einzugehen.

Neben den Problemen der Koalitionsbildung sieht sich Babiš auch mit juristischen Vorwürfen konfrontiert. Er wartet auf ein Urteil des Prager Bezirksgerichts in einem Verfahren wegen mutmaßlichen Missbrauchs von EU-Subventionen im Zusammenhang mit seinem Projekt Storchennest, einem Bauernhof und Konferenzzentrum, das einst Teil seines Agrofert-Imperiums war. Im Mittelpunkt des Verfahrens steht die Frage, ob das Unternehmen vorübergehend von Agrofert getrennt wurde, um sich für die für kleine und mittlere Unternehmen reservierten Fördermittel zu qualifizieren. Nach der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs im Juni, seinen früheren Freispruch aufzuheben, wird erwartet, dass das Bezirksgericht die Beweise erneut prüft. Sollte das Verfahren fortschreiten, könnte das Parlament aufgefordert werden, über die Aufhebung von Babiš’ Immunität abzustimmen.

Politische Neuausrichtung: Konservative Verluste, Zusammenbruch der Linken und ein Frauenrekord

Die konservative Parteienallianz SPOLU, bestehend aus der konservativen ODS (Bürgerdemokratische Partei), der marktliberal-konservativen TOP 09 (Tradition, Verantwortung und Wohlstand) und der sozial-konservativen KDU-ČSL (Christliche und Demokratische Union – Tschechoslowakische Volkspartei), belegte mit 23,4 Prozent und 52 Sitzen den zweiten Platz. Obwohl SPOLU die scheidende Regierung anführte, spiegelt der Rückschlag die Schwierigkeiten wider, in Krisenzeiten wie Inflation, Energiekrisen und sozialer Polarisierung zu regieren. Er offenbarte auch den Mangel an klarer Kommunikation der Koalition über ihre Erfolge und Reformen. Die würdevolle Reaktion von Petr Fiala, der den Respekt vor demokratischen Ergebnissen und der Westorientierung des Landes betonte, stand im scharfen Kontrast zur populistischen Rhetorik, konnte die weit verbreitete Wählermüdigkeit jedoch nicht überwinden. Babiš nutzte diese Schwäche effektiv aus und präsentierte sich als Stimme derer, die sich „abgehängt“ fühlten.

Die zentristische Partei STAN (Bürgermeister und Unabhängige) erhielt 11,2 Prozent der Stimmen, während die Piratenpartei, die im Bündnis mit den Grünen antrat, neun Prozent erreichte. Beide bekräftigten ihr Bekenntnis zu europäischen Werten, Transparenz und verantwortungsvoller Regierungsführung, werden nun aber voraussichtlich auf die Oppositionsbank wechseln. Zusammen verfehlte das demokratische,  pro-westliche Lager – SPOLU, STAN und Piraten – die für eine Parlamentsmehrheit erforderlichen 101 Sitze. Während STAN und die Piraten ihre Ergebnisse verbesserten, zeugt die Wahlniederlage  von SPOLU davon, dass die Konservativen ihre Strategie zur Wiederherstellung von Vertrauen und politischer Relevanz überdenken müssen.

Die Wahlen 2025 bestätigten zudem den weiteren Niedergang der tschechischen Linken. Die linke Koalition Stačilo! (Genug!), in der sich die Reste der kommunistischen und die sozialdemokratischen Partei zusammengetan hatte, scheiterte am Einzug ins Parlament.  Zeichen dafür ist, dass die meisten tschechischen Wähler trotz der zunehmenden Polarisierung weiterhin extremistische Alternativen ablehnen.

Ein weiteres positives Ergebnis der Wahlen 2025 ist der historische Anstieg des Frauenanteils im Parlament. Das neue Abgeordnetenhaus wird 67 Frauen umfassen – die höchste Anzahl in der tschechischen Geschichte. Dank der Direktmandate konnten die weiblichen Abgeordneten der Piraten und der STAN deutlich zulegen und überwiegend weibliche Delegationen ins Unterhaus schicken. Im Gegensatz dazu verzeichneten die Autofahrer und die SPD den niedrigsten Anteil weiblicher Abgeordneter, was die anhaltende Geschlechterkluft zwischen progressiven und populistischen Parteien verdeutlicht.

Widersprüche meistern: Babiš’ Balanceakt zwischen Europa und Populismus

Die unmittelbare Frage ist nun, ob Babiš pragmatisch regieren oder die Tschechische Republik auf einen illiberaleren Weg lenken wird. Es ist wichtig, Babiš und seine Regierung nicht sofort zu dämonisieren oder voreilig ein ungarisches oder slowakisches Szenario vorherzusagen.  Babiš ist vor allem ein auf den eigenen Vorteil bedachter, stark von den europäischen Märkten abhängiger Geschäftsmann, kein Ideologe. In Tschechien ist daher kein grundstürzender Politikwechsel zu erwarten, und die demokratischen Institutionen bleiben robust. Dennoch wird der Ton der neuen Regierung entscheidend sein. Es ist mit einem konfrontativeren Ansatz gegenüber Brüssel in der Klima- und Migrationspolitik zu rechnen. Dies spiegelt die EU-skeptischen Positionen seiner potenziellen Partner, aber auch Babiš’ Fokus auf die Verteidigung inländischer Wirtschaftsinteressen wider.

Der Weg in die Zukunft: Stabilität, Verantwortung und liberale Erneuerung

Babiš’ Wahlsieg spiegelt eher Frustration über den Status quo als eine Ablehnung von Demokratie oder Europa wider. Tschechien wird keine unmittelbare ideologische Abkehr von westlichen und europäischen Werten erleben, dürfte aber in eine stärker transaktionale, interessenorientierte Phase der Politikgestaltung eintreten.

Zu Beginn der Koalitionsverhandlungen wird Präsident Petr Pavel eine zentrale Rolle spielen. Seine ausgewogene Botschaft nach der Wahl – er gratulierte den Wahlsiegern und bekräftigte gleichzeitig die prowestliche Ausrichtung des Landes – spiegelt die institutionelle Reife der tschechischen Demokratie wider. In den kommenden Wochen wird die größte Herausforderung darin bestehen, eine Regierung zu bilden, die Stabilität gewährleistet, ohne die liberalen Institutionen zu untergraben.

Die neue politische Landkarte mit sechs Fraktionen und einer Rekordzahl an darin zusammengeschlossenen Parteien verkörpert Pluralismus und Fragmentierung zugleich. Für Liberale erfordert dieser Moment ein erneuertes Bekenntnis zu einer wertebasierten Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg – zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit, zur Unterstützung der Ukraine, zur Verteidigung der Medienfreiheit und zum Schutz der europäischen Integration.

In einem Jahr politischer Turbulenzen in ganz Europa erinnern die tschechischen Wahlen daran, dass Demokratie nie statisch ist. Die liberalen Kräfte des Landes stehen nun vor einer strategischen Entscheidung: Vertrauen nicht durch Angst vor Populismus wiederherzustellen, sondern durch den Mut für neue Ideen.

Wahlergebnis in Tschechien

Wahlergebnis in Tschechien

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