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Verwaltungsdigitalisierung
Was kann Deutschland von Estland lernen?

Die neue X-Road Digitalisierung analysiert, was Estland in der Digitalisierung so erfolgreich macht
Estlands digitale Errungenschaften
Eine Ausstellung in Tallinn präsentiert Estlands digitale Errungenschaften © picture alliance/AP Photo | David Keyton

Wer aus Deutschland nach Estland kommt, kann nur staunen: Weit mehr als zweihundert staatliche Dienstleistungen lassen sich heute mit einem einzigen elektronischen Ausweis nutzen. Voraussetzung dafür ist eine sichere Authentifikationsmethode im Netz. 2002 hat die Regierung neue, mit einem speziellen Chip versehene Identitätskarten herausgegeben.

Die weit verbreitete eID dient als Identitätsnachweis und somit als Türöffner für digitale Dienstleistungen und Behördengänge. Seit 2007 sind die gleichen Dienste auch über eine Mobile eID verfügbar. Postgänge sind überflüssig, da die auf der eID beruhende digitale Signatur gleichberechtigt zur handschriftlichen Unterschrift steht. Ein Privatunternehmen hat im Auftrag des staatlichen Zertifizierungszentrums eine Software entwickelt, mit der Estinnen und Esten jede beliebige Datei digital signieren können. Das Verfahren ist so einfach wie etwa eine Konvertierung von Word zu PDF. Neben der eID ist die Hauptbasis des estnischen E-Governments die sogenannte X-Road, ein 2003 eingeführtes zentrales System innerhalb von dezentralen digitalen Plattformen

(eesti.ee).43 Die X-Road ist das Schlüsselelement für die Digitalisierung in Estland. Die Dateninfrastruktur wird von der staatlichen Informationssystembehörde betrieben. Zunächst wurde das System konstruiert, um Abfragen an andere behördliche Datenbanken zu senden. Heute sind über 900 Organisationen und Datenbanken vertraglich über die X-Road verknüpft (https://www.x-tee.ee/home).

Digitalisierung ist das Leitmotiv Estlands, sie wurde quasi als Top-down-Prozess „von oben” verordnet. Junge Politikerinnen und Politiker erkannten die Bedeutung von Software und Daten im rohstoffarmen Land bereits sehr früh. Die frühzeitige Verbreitung von E-Signaturen hat die Entwicklung von staatlichen und privaten Online-Diensten in Estland stark begünstigt. Viele Akten, etwa Grundbücher, gibt es nicht mehr in Papierform. Amtliche Mitteilungen erscheinen seit 1. Juli 2003 ausschließlich online. 98 Prozent der Estinnen und Esten machen ihre Steuererklärung online, die Generation 60 plus beteiligt sich überdurchschnittlich stark an den landesweiten Wahlen via Mausklick. Regierung, Verwaltung, Rechtswesen, Gesundheit und Bildung funktionieren online.

Das estnische Modell rückt die Bürgerinnen und Bürger ins Zentrum der öffentlichen Verwaltung. Diese erhalten effiziente Dienstleistungen und erlangen zugleich die Kontrolle über ihre Daten. Sie können jederzeit einsehen, wer auf ihre Daten zugreift, und sich notfalls dagegen wehren. Es ist eben nicht ausreichend, analoge Verwaltungsschritte bloß im Internet oder per App anzubieten. Erst wenn verschiedene öffentliche und private Stellen miteinander Daten austauschen, erhalten die Bürgerinnen und Bürger wirklich Mehrwert.

Vor dem Hintergrund der estnischen Erfahrung wird deutlich, wie sehr der digitale Wandel in Deutschland verschlafen wurde. Mit einer flächendeckend funktionierenden digitalen Infrastruktur für öffentliche Dienstleistungen wäre Deutschland weitaus besser durch die Pandemie gekommen. Mit funktionierenden digitalen öffentlichen Dienstleistungen ließen sich die Kosten der Bürokratiebewältigung für Bürger und Bürgerinnen sowie Unternehmen deutlich senken. 

Wir können und müssen von internationalen Vorreitern lernen und den praktisch orientierten Blick über die Grenzen wagen, da sich Digitalisierung nicht auf der grünen Wiese planen lässt. Estland bietet sich hierfür an, weil es weltweit führend bei der Digitalisierung des Staates ist, eine Generation Erfahrung hat und als EU-Mitglied dem gleichen regulatorischen Rechtsrahmen beim Datenschutz und bei der Datensicherheit wie Deutschland unterliegt.