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Türkei
Türkeibericht der Europäischen Kommission – Dokumentation des Rückschritts

Türkei EU
© Gettyimages / BirgitKorber

In einer Zeit durchaus schwieriger EU-Türkei-Beziehungen hat die Europäische Kommission am 19. Oktober ihren jährlichen Türkeibericht vorgelegt. Dabei geht es um grundlegende Fragen des Beitritts, etwa in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit und demokratische Institutionen, aber auch um konkrete Anpassungen an EU-Recht in verschiedenen Wirtschaftssektoren. Erstmals seit Beginn der Beitrittsverhandlungen im Jahr 2005 wurde der Bericht nicht mehr als „Fortschrittsbericht“ bezeichnet, sondern neutral als „Länderbericht“, und das aus gutem Grund. Denn die festgestellten Fortschritte sind äußerst bescheiden und verblassen hinter den vielen Kritikpunkten der Kommission.

Die Brüsseler Autoren prangern insbesondere den Abbau der Gewaltenteilung und demokratischer Mechanismen, den zunehmenden Druck auf oppositionelle Bürgermeister und die nach dem gescheiterten Putschversuch verstetigten erweiterten Befugnisse von Behörden an. Besorgniserregende Rückschritte werden im Bereich der Justiz festgestellt, die nicht mehr als unabhängig gelten könne. Wenngleich Menschenrechte und Grundrechte gesetzlich garantiert seien, stehe die Harmonisierung des türkischen Rechts mit der Europäischen Menschenrechtskonvention aus. Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte werde nicht umgesetzt, die Presse- und Meinungsfreiheit seien zunehmend eingeschränkt. Auf der Zivilgesellschaft laste ein zunehmender Druck. Besorgnis erregt auch ein neues Gesetz, das eigentlich zur Bekämpfung der Finanzierung von Massenvernichtungswaffen geschaffen wurde, sich aber absehbar zur weiteren Einschränkung von Menschenrechtsaktivitäten nutzen lässt.

Die Kritik der Europäischen Kommission

Die genannten negativen Entwicklungen überschatten die bescheidenen Fortschritte, die im Bericht durchaus beschrieben sind. So werden der Türkei zumindest begrenzte Fortschritte bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens, in der Migrations- und Asylpolitik, bei Energie- und Transportnetzwerken, Fischereirechten und der Vorbereitung eines Außenhandelsabkommens mit Großbritannien analog zu dem der EU attestiert. Ausdrücklich gewürdigt wird die Aufnahme von mindestens 3,7 Mio. syrischen und 320.000 anderen Geflüchteten – kein Land der Welt beherbergt mehr geflüchtete Menschen als die Türkei. Die EU unterstützt hier mit Milliardenbeträgen.

In den türkischen Medien nahm die Publikation des Länderberichts wenig Raum ein. Von der türkischen Regierung ist er jedoch in scharfen Worten zurückgewiesen worden. Die Kritik der Europäischen Kommission sei unbegründet und ungerecht, so das offizielle Statement des Außenministeriums. Die EU wende Doppelstandards an und komme ihrerseits ihren Verpflichtungen gegenüber dem Beitrittskandidaten nicht nach. Insbesondere die Erneuerung des Flüchtlingsabkommens von 2016 wird angemahnt. Die EU ignoriere die großen Herausforderungen, vor denen die Türkei durch verschiedene Terrororganisationen stehe; dies diene vor allem anti-türkischen und EU-feindlichen radikalen Kreisen in Europa. Gleichwohl bekräftigt das Außenministerium abschließend das strategische Ziel eines Beitritts zur EU.

Kooperation in Feldern beiderseitigen Interesses

Der Türkeibericht erschien nur wenige Tage, bevor der Appell von zehn westlichen Botschaftern zur Freilassung des Kulturmäzens und Menschenrechtsverteidigers Osman Kavala zu einer diplomatischen Krise und beinahe zur Ausweisung der Botschafter führte. Dabei hatte sich 2021 zunächst eine Entspannung der Beziehungen zwischen EU und Türkei abgezeichnet, nachdem sich das beiderseitige Verhältnis Ende 2020 aufgrund von Spannungen im östlichen Mittelmeer akut verschlechtert hatte. Die von der EU angestrebte „positive Agenda“ mit der Türkei sieht eine konstruktive und an Bedingungen geknüpfte Kooperation in Feldern beiderseitigen Interesses vor. In diesem Sinne hat es dieses Jahr bereits mehrere hochrangige Gespräche etwa zu den Themen Migration, Sicherheit oder Klima gegeben.

Angesichts der aktuellen Gemengelage – des Stillstands der Beitrittsverhandlungen und des aktiven Engagements der EU in anderen Kooperationsformaten – stellt sich die Frage, wie viel Sinn die jährliche Übung des Türkei-Länderberichts und der Beitrittsprozess generell noch haben. Dass die Türkei von einer Erfüllung der formalen Beitrittskriterien (Kopenhagener Kriterien) weit entfernt ist und auch die EU in ihrer heutigen Form kaum mehr aufnahmefähig ist, liegt auf der Hand. Das Europäische Parlament hat bereits im Mai 2020 das formale Aussetzen der Verhandlungen gefordert, aus einigen Staaten wird der völlige Abbruch des Prozesses gefordert. Doch es gibt auch andere Stimmen, und viele von ihnen stammen aus der Türkei selbst. Die zumindest theoretische Möglichkeit eines künftigen EU-Beitritts ist ein gewichtiges Argument der Oppositionskräfte gegenüber ihren Wählern, denn viele Menschen in der Türkei verorten ihr Land deutlich in Europa. Mit dem „Instrument für Heranführungshilfe (IPA)“ werden unzählige wertvolle Projekte finanziert, die bei einem formalen Abbruch gefährdet wären. Im Rahmen des Beitrittsprozesses gelingt es zuweilen auch, das Schrumpfen der Spielräume für zivilgesellschaftliches Handeln und Bürgerrechte zumindest aufzuhalten. Nicht zuletzt gibt es im Land viel Zuversicht, dass es absehbar eine Rückkehr auf den Weg von Rechtsstaatlichkeit und demokratischen Spielregeln geben wird. Es könnte sich mittelfristig als klug herausstellen, die institutionelle Verflechtung durch den Beitrittsprozess nicht aufzulösen, auch wenn dieser derzeit aus guten Gründen ruht.