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China Bulletin
Das mysteriöse Verschwinden hochrangiger Staatsbeamter

Hu Jintao wird auf dem 20. Parteikongress im Oktober 2022 aus dem Kongresssaal geführt.

Hu Jintao wird auf dem 20. Parteikongress im Oktober 2022 aus dem Kongresssaal geführt.

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Koki Kataoka

Es begann auf dem 20. Parteikongress im Oktober 2022, und seither wird die Liste immer länger: Vor laufenden Kameras wurde Hu Jintao, Xi Jinpings Vorgänger als Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas, aus dem Kongresssaal geführt. Er tauchte anschließend zwei Monate lang nicht mehr öffentlich auf. Im Juli 2023 verschwand der chinesische Außenminister Qin Gang von der politischen Bildfläche und wurde etwa einen Monat später ohne weitere Erklärung durch seinen Vorgänger Wang Yi ersetzt. Wenig später wurden mehrere hochrangige Generäle der Volksbefreiungsarmee entfernt. Im September diesen Jahres verschwand Verteidigungsminister Li Shangfu. Die Vorfälle folgen einem Muster und nehmen seit Jahren zu. Zuletzt traf es vermehrt hochrangige Individuen, die eigentlich als Vertraute Xi Jinpings galten.

Mehr als ein typischer Rivalitätskonflikt?

Säuberungen, bei denen Funktionäre vorübergehend verschwinden, sind typisch für autoritäre Einparteienstaaten. Sie erinnern an historische Beispiele aus der Mao-Zeit, der Sowjetunion, dem deutschen Nationalsozialismus und der DDR. Charakteristisch für die machtkampftypische Eliminierung politischer Rivalen war und ist dabei häufig eine schleichende „Einkreisung“ des Rivalen durch die allmähliche, schrittweise Entfernung seiner Unterstützer an der Peripherie. Bei den aktuellen Fällen kann es aber nicht nur um Rivalität gehen. Dazu ist Xis Status an der Parteispitze zu gefestigt. Und die zuletzt Entfernten gehörten mitnichten zur „Peripherie“. Dennoch stellt sich für die Parteispitze die Frage, wie sich etwaige „subversive Kräfte“ jetzt innerhalb der Partei organisieren, welche Netzwerke sie bilden und wie viele Mitglieder ihnen angehören. Denn das ist in komplexen autoritären Systemen aufgrund ihrer Intransparenz erfahrungsgemäß auch für die Führung selbst nicht klar einzuschätzen. Und so bleiben die Motive für diese jüngsten Säuberungen unklar. Ein Blick in die traditionelle Dynamik von Amtsenthebungen in der Volksrepublik könnte aber Anhaltspunkte liefern.

Das klassische „Korruptionsnarrativ“ hat sich erschöpft

Seit den 1980er Jahren ist der „Kampf gegen Korruption“ für die Kommunistische Partei eine ihrer zentralen legitimierenden Funktionen. Hierbei vermischt sich die tatsächliche Notwendigkeit des Korruptionsabbaus, wie sie für postkommunistische Systeme typisch ist, mit dem sekundären Effekt einer starken Narrativbildung: „Korruptionsbekämpfung“ wird zum rhetorischen Mittel, um die öffentliche Aufmerksamkeit von konkreten Problemen ab- und zu einem stärker ideell orientierten Werte- und Prinzipienkomplex hinzulenken. Dabei wird vermittelt, dass die Partei sich für die Wirtschaft einsetzt. Zugleich wird Kritik an verkrusteten Machtstrukturen und politischen Defiziten zerstreut.

Auch Xi Jinping verdankt seinen ursprünglichen Erfolg seiner großen Anti-Korruptionskampagne, die insbesondere den Mittel- und Unterbau des Parteiapparates sowie Teile der Parteielite nachhaltig umgekrempelt hat. Neben messbaren Erfolgen der Kampagne sind dabei auch negative Auswirkungen innerhalb der chinesischen Funktionseliten zu beobachten. Funktionäre fürchten Kurskorrekturen und zögern, ihren Verpflichtungen im vollen Umfang nachzukommen. Das blockiert den Verwaltungsapparat. Xis hartes Vorgehen gegen Korruption hat dabei das Vertrauen der chinesischen Gesellschaft in die Parteistruktur nicht nachhaltig gestärkt. Auch in globalen Transparenzrankings rangiert China nach wie vor auf den hinteren Plätzen. In den Augen der chinesischen Öffentlichkeit macht sich die chinesische Regierung zudem immer verdächtiger, je mehr Korruptionsfälle sie offenlegt: Korruption erscheint zusehends als allgegenwärtig, zugleich verstärkt sich der Eindruck, dass die Korruptionsbekämpfung lediglich ein Propagandamittel ist. All dies erhöht den Rechtfertigungsdruck auf die Parteispitze und höhlt das Korruptionsnarrativ aus. Dazu passt, dass „Korruptionsverfahren“ als Grund für die jüngsten Entfernungen hochrangiger Amtsträger kaum noch eine Rolle spielen.

Abgrenzung mit destabilisierenden Folgen?

Für die jüngste Welle an Amtsenthebungen gibt es keine eindeutige Erklärung. Einige Expertinnen und Experten äußern Zweifel an Xi Jinpings Entscheidungstreffsicherheit. Die abrupte Entfernung der von ihm selbst ernannten Minister und Generäle wirft ein ambivalentes Licht auf seine Führungs- und Außenwirkungsstrategie. Die Machtstrukturen an der chinesischen Parteispitze sind für Außenstehende zunehmend schwieriger zu durchschauen. Gibt es eine größere Strategie hinter Xis scheinbar erratischen Entlassungen? Sollen die Machtstrukturen innerhalb der Partei gezielt vom Westen entkoppelt werden? Der Economist verwies kürzlich auf den hohen Status des ehemaligen Außenministers Qin Gang als zentrales kommunikatives Bindeglied zwischen westlichen Staaten und der Volksrepublik. Die Abwesenheit solch zentraler Figuren vertiefe den Graben zwischen den Systemen.

Es verbleibt der Eindruck einer erhöhten Volatilität an der chinesischen Parteispitze. Sollte sich der Austausch von Spitzenfunktionären fortsetzen, dürfte dies zu erhöhter Verunsicherung führen, selbst wenn Xi Jinping dadurch seine eigene Macht noch stärker konsolidiert. Eine mögliche Folge wäre eine strukturelle Schwächung der Parteispitze, zum Beispiel durch Erosion der etablierten operativen Netzwerke oder eine erhöhte Risikoaversion im Funktionsapparat. Mögliche andersdenkende, reformorientiertere Kräfte könnten es in einer derart veränderten Parteispitze noch schwerer haben. Gleichzeitig wäre es für die Machthabenden noch schwieriger, diese interne Opposition zu beurteilen, weil eingeübte Strukturen und Verfahren nicht mehr existieren und alles im Verborgenen geschehen muss. Eine derart geschwächte Parteispitze würde sicherlich auch eine Verunsicherung innerhalb der Bevölkerung nach sich ziehen. Die Partei, und insbesondere Xi Jinping, müssen also dringend ein glaubwürdiges Erklärungsnarrativ für die jüngste Amtsenthebungswelle finden. Sollte dies nicht gelingen, hätte Xi zwar seine eigene Macht innerhalb der Partei gestärkt, aber auf Kosten von deren Funktionsfähigkeit und Legitimität.

Dr. Nele Fabian ist European Affairs Managerin im Regionalbüro Europäischer Dialog der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Brüssel. Sie ist Sinologin und Politikwissenschaftlerin. Ihre Promotion im Fach Moderne Geschichte Chinas mit Schwerpunkt Umweltpolitik und Nachhaltigkeitsdenken im China des 20. Jahrhunderts hat sie an der Ruhr-Universität Bochum abgeschlossen.

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