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70. Todestag
Stalins Wirken vergiftet Russland bis heute

70. Todestag eines mörderischen Tyrannen
Stalin

Büste von Josef Wissarionowitsch Stalin

© picture alliance / AA | Vladimir Aleksandrov

Vor 70 Jahren, am 5. März 1953, starb Josef Wissarionowitsch Stalin. Er war für den Tod von Millionen Menschen, für gewaltiges menschliches Leid und die totale Verwüstung sozialer Beziehungen unter dem kommunistischen Herrschaftssystem, an dessen Spitze er mehr als 25 Jahre stand, verantwortlich. Doch als sein Tod in den offiziellen Medien der Sowjetunion verkündet wurde, war ein großer Teil der Bevölkerung tief betroffen. Zeitzeugen beschrieben, wie sie eine große Leere fühlten, wie sie sich nicht vorstellen konnten, ohne den im politischen und vor allem im Propagandaapparat allgegenwärtigen Führer zu leben. Heute ist die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger Russlands der Meinung, dass er in der Geschichte ihres Landes eine positive Rolle gespielt hat – das unabhängige Meinungsforschungsinstitut Levada-Zentrum ermittelte im Jahr 2021 eine Zustimmung von 56 % zu der These, dass er ein großer Führer gewesen sei. Das sagt viel über den aktuellen Zustand der russischen Gesellschaft aus, in den sie nach kurzen Phasen der kritischen Auseinandersetzung mit Stalins Herrschaft wieder zurückgefallen ist. Das ist umso bedrückender, als dass praktisch jede Familie in Russland, in der Sowjetunion, Opfer des Regimes Stalins zu beklagen hat: sei es durch Exekution, durch Lagerhaft, durch Verbannung oder Diskriminierung. Doch die Unausweichlichkeit dieses Systems ist bis heute tief verankert.

Viel ist über die Persönlichkeit Stalins geschrieben worden – und sicher haben seine Eigenschaften eine Rolle bei seinem Aufstieg zu gewaltiger Macht und zu einem der mörderischsten politischen Führer der Weltgeschichte gespielt. Doch er war vor allem Repräsentant und Symptom eines politischen Denkens und eines Herrschaftssystems, die bis heute fortwirken.

An der Spitze des bürokratischen Terrorapparats

Im unter russischer Herrschaft stehenden Georgien im Jahr 1878 geboren, stieg Josef Wissarionowitsch Dschugashwili, der sich 1912 den Kampfnamen Stalin gab, in den Rängen der Bolschewiki und nach der Machtübernahme in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion auf. Von 1927 bis zu seinem Tod hat er die Sowjetunion geführt. Dabei spielte es keine große Rolle, welche konkreten Ämter in Partei und Staat er in bestimmten Zeiträumen einnahm – er ließ sich gern und zutreffend „Voschd“ (Führer) nennen.

Sein Denken und Handeln war von zwei Motiven geleitet. Einerseits sah er sich und die Kommunistische Partei als Exekutor historischer Gesetze, als Schöpfer einer neuen Ordnung. Diese Überzeugung rechtfertigte für ihn – und für zahlreiche seiner Mitstreiter – praktisch alles. Jedes Verbrechen, jede Tat war gerechtfertigt, wenn sie dem großen Ziel der kommunistischen Zukunftsvision diente.

Andererseits war er der Überzeugung, dass nur totale Kontrolle aller Lebensbereiche und möglichst großes Misstrauen gegenüber allen, selbst gegenüber seiner engsten Umgebung, seine Herrschaft erhalten können. Immer wieder veranlasste er „Säuberungen“ des Parteiapparats, ließ vermeintliche Feinde der Partei, Hindernisse für den sozialistischen Aufbau, entlarven und verurteilen, foltern und töten. Der Holodomor, die Moskauer Schauprozessen gegen kommunistische Funktionäre, die wiederkehrenden Säuberungen in vielen Bereichen sind nur Beispiele für ein mörderisches System, in dem jede und jeder von Repressionen, Lagerhaft und Tötung bedroht war.

Für die totale Kontrolle des Staates setzte er auf einen immer weiter wachsenden, skrupellosen Sicherheitsapparat und gleichzeitig auf einen alle Lebensbereiche erfassenden Propagandaapparat. Millionen Menschen fielen seiner Herrschaft direkt zum Opfer, wurden getötet oder litten in den Lagern des „Gulag-Systems“. Durch ein immer weiter intensiviertes System der gegenseitigen Denunziation und Bespitzelung, durch die Kontrolle jeder öffentlichen Diskussion, durch die Instrumentalisierung von Kunst und Medien wurde das gesamte gesellschaftliche Leben pervertiert, wurden Familien und persönliche Beziehungen dauerhaft ausgehöhlt und zerstört. Die Folgen verheeren bis heute die russische Gesellschaft.

Repräsentant und Symptom einer menschenvernichtenden Ideologie

Oft wird argumentiert, dass man doch die positiven Ergebnisse, die Modernisierung und Industrialisierung, den Sieg im Zweiten Weltkrieg zu Stalins Gunsten auf die Waagschale legen müsse. Die Verbrechen und Fehler Stalins müssten in diesem Zusammenhang gesehen werden. Doch die Verbrechen Stalins, seiner Helfer, seiner Partei und seines Apparates waren keine „Entartungen“ oder Abweichungen. Sie entspringen unmittelbar dem Geist der kommunistischen Ideologie – und anderer kollektivistischer Bewegungen.

Menschen wurden von Stalin nur als Mittel für die Realisierung übergeordneter Ziele angesehen – oder auch als Hindernisse für ihre Realisierung, die ausgemerzt werden müssen. Menschliche Bindungen sind ebenfalls Hindernisse, freiwillige Zusammenschlüsse, das Vertreten von Interessen, der Streit um unterschiedliche Vorstellungen, Werte und Ziele waren in den Augen Stalins Gefahren – für die eigene Macht und für die Herrschaft der Partei und deren Zukunftsvorstellungen. Dieses Denken ist bis heute präsent – nicht nur in Russland und nicht nur bei Sozialisten und Kommunisten. Die Verachtung und das Misstrauen gegenüber schwierigen gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen, gegenüber rechtstaatlichen und anderen Mechanismen, die das Erreichen von einmal gesetzten politischen Zielen behindern oder verzögern können, ist weiterhin verbreitet.

Stalins Geist lebt weiter

Die Herrschaft Stalins und der Kommunistischen Partei baute – neben der eigenen marxistisch-leninistischen Ideologie auch auf wichtigen Entwicklungslinien der russischen Geschichte auf. In Russland waren demokratische, rechtsstaatliche Institutionen vor den Umwälzungen von 1917 sehr wenig ausgeprägt, die allermeisten Menschen waren gegenüber politischen Entscheidungen machtlos, lebten in Armut und weitgehendem Unwissen. Individuelle Freiheit, bürgerliches Selbstbewusstsein und privates Eigentum existierten kaum und waren immer vom Wohlwollen der politisch Herrschenden abhängig. Das begründete, wenigstens teilweise, die Anziehungskraft der Bolschewiki, die 1917 die Macht an sich rissen. Das Versprechen von etwas Wohlstand, mehr Bildungsmöglichkeiten für breite Schichten und auch von Teilhabe an der politischen Macht zog viele Menschen an.

Der Preis, den die Menschen für die Zukunftsträume der politischen Herrscher zahlen mussten und bis heute zahlen, ist jedoch gewaltig. Menschen konnten sich nicht selbstständig entwickeln, sondern wurde zu Instrumenten eines politischen Herrschaftsapparates, der bedingungslose Unterwerfung zur Erreichung „höherer“ Ziele einfordert. Dieses Denken, für das Stalin in besonderer Weise steht, ist bis heute wirkmächtig. Es hat ganze Generationen infiziert. Ein wesentlicher Faktor dabei ist, dass die meisten Menschen in Russland nicht glauben, dass es zur „Macht“ (so werden die Staatsorgane genannt) und ihren Instrumenten eine realistische Alternative gibt. Gewalt und ihre Androhung sind der wesentliche Faktor, der politische Entscheidungen determiniert, nicht öffentliche Debatte, in Institutionen eingebundenes Austragen von Konflikten und Kompromisse. Das Denken in den Kategorien Freund und Feind beherrscht das Weltbild vieler. Die kommunistische Ideologie ist von einem nationalistischen Narrativ abgelöst worden – die Struktur des Denkens und Handelns bleibt hat sich wenig verändert.

Es gab in der Geschichte Russlands mehrere Phasen, in denen über die Verbrechen Stalins und deren Folgen offen gesprochen werden konnte, in denen es eine tatsächliche Auseinandersetzung gab. Doch diese Phasen waren kurz und wurden immer wieder von den Machthabern beendet. Heute werden diejenigen Organisationen, die dafür arbeiten, die Erinnerung wachzuhalten, als ausländische Agenten diskreditiert und sanktioniert. So lebt Stalins Geist weiter und die zerstörerische Wirkung seiner Herrschaft hat Russland weiter im Griff. Umso mehr gilt es, diejenigen zu unterstützen, die das Bewusstsein für seine Verbrechen und für das mörderische System, dessen Spitze er war, wachhalten und schärfen wollen.