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Flüchtlingspolitik
Polens Hilfe ist endlich

Altes Einkaufszentrum, umgebaut in ein Aufnahme- und Umsiedlungszentrum für ukrainische Flüchtlinge an der Grenzübergangsstelle in Korczowa, Polen.

Altes Einkaufszentrum, umgebaut in ein Aufnahme- und Umsiedlungszentrum für ukrainische Flüchtlinge an der Grenzübergangsstelle in Korczowa, Polen.

© picture alliance / ANE / Eurokinissi | Maria Makraki / Eurokinissi

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Eine Woche nach dem russischen Überfall auf die Ukraine zog Paweł Wołowski, ein ehemaliger Mitarbeiter des polnischen Thinktanks „Zentrum für Oststudien“ in Warschau, seine warme Jacke über und ging in die Kirche. Er sagte dem Pfarrer, dass Unterkünfte für Flüchtlinge aus der Ukraine gebraucht würden. Am 8. März kamen die ersten Gäste in den Zimmern hinter der Kirche unter. Im Verlauf eines Monats nutzten mehrere Hundert Ukrainer die 32 Betten. Sie bekamen ein Dach über dem Kopf, ein Telefon und warme Mahlzeiten. Einhundert Freiwillige kümmerten sich um sie. Die meisten blieben nur kurz in Warschau und reisten dann weiter. Eine so einmütige, die ganze Nation umfassende soziale Bewegung hat Polen seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt. Die Menschen in den oft engen Wohnblocks räumten ihre Wohnungen um, damit sie wenigstens ein Zimmer an Geflüchtete abtreten konnten. Manche stiegen ins Auto und fuhren an die Grenze und boten den Ankommenden die Weiterfahrt ins Landesinnere an.

 

Vielen gelingt es nicht, sich ihr Leben hier einzurichten.

Kajetan Wróblewski

Andere engagierten sich ehrenamtlich und vernachlässigten darüber ihren Unterricht oder ihre Arbeit. Die Hilfsbereitschaft war kolossal: Zwischen Februar und Ende Juni des vergangenen Jahres haben mehr als 70 Prozent der Privathaushalte den Bewohnern der vom Krieg heimgesuchten Ukraine auf unterschiedliche Weise geholfen, meist mit Sach- oder Geldspenden. Sechs Prozent der Privathaushalte halfen den Ankommenden dabei, eine Arbeit zu finden, den Alltag zu bewältigen oder Verwandte zu versorgen. Rund 3 Prozent nahmen Flüchtlinge sogar im eigenen Haushalt auf.

Polen profitiert vom Zuzug

Zum Höhepunkt der Flucht im Sommer befanden sich 1,4 Millionen Flüchtlinge im Land. Bis Ende vergangenen Jahres wurden insgesamt 8,5 Millionen Einreisen aus der Ukraine nach Polen registriert. Viele Menschen reisten weiter, die Mehrzahl aber entschied sich für eine Rückkehr in ihr Heimatland. Ende vergangenen Jahres lebten in Polen offiziell etwa eine Million Flüchtlinge. Zählt man die 1,3 Millionen Ukrainer hinzu, die schon vor dem Überfall gekommen waren, befinden sich derzeit nach Angaben der Regierung mindestens 2,3 Millionen Ukrainer in Polen. Polen profitiert von dem Zuzug, denn fast 900 000 Menschen haben schon eine Arbeit aufgenommen. Die Flüchtlinge verjüngen die polnische Bevölkerung, bestätigt Bartosz Marczuk, der stellvertretende Vorsitzende des Polnischen Entwicklungsfonds. Sie sind auf dem Arbeitsmarkt aktiv und sie sorgen für ihren Lebensunterhalt. Für die Regierung ist die Aufnahme auch eine moralische Frage: Die polnische Familienministerin Marlena Maląg erklärte im Februar, es habe sich gezeigt, dass Polen die Prüfung in Sachen Menschlichkeit bestanden habe. Sie betonte, dass die Flüchtlinge aus der Ukraine dieselben Rechte hätten wie die Polen. Sie seien legal im Land, dürften arbeiten und Sozialleistungen beziehen. Doch die optimistische Darstellung der Regierung hält den Berichten von Aktivisten nicht stand. Denn nicht allen Ukrainern geht es hier gut. Und jene, denen das Schicksal nicht gewogen ist, bekommen unzureichende Unterstützung durch den Staat. Kajetan Wróblewski vom polnischukrainischen Freundschaftsverein TPU empfängt Flüchtlinge am Warschauer Ostbahnhof. Der Staat habe bisher noch kein effektives Hilfssystem entwickelt, kritisiert er. Es gebe immer noch Probleme mit der Unterbringung, und jede Woche meldeten sich Menschen, die auf der Straße lebten. Der Staat garantiert bei Einreise einmalig 300 Złoty finanzielle Unterstützung – etwas mehr als 63 Euro. Später gibt es für jedes Kind monatlich die Kindererziehungsbeihilfe „500 plus“. Dazu kommen eventuell ein paar Hundert Złoty Sozialhilfe. „Das ist entschieden zu wenig. In den Krippen und Kindergärten fehlt es an Plätzen, also können die Frauen nicht arbeiten. Vielen gelingt es nicht, sich ihr Leben hier einzurichten“, sagt Wróblewski. Hinzu komme eine immer größere Anzahl älterer Ukrainer, die mit ihren Renten im Gegenwert von 300 Złoty in Polen nicht über die Runden kommen. Viele Ankömmlinge blieben perspektivlos in den Aufnahmezentren hängen. Die Regierung sieht das anders: Rund 80 000 Menschen hielten sich in Gruppenunterkünften auf, mehr als die Hälfte davon habe schon Arbeit gefunden, argumentiert sie und will die Flüchtlinge anspornen, selbstständig zu werden. Deshalb sollen sie seit dem 1. März die Hälfte der Lebensunterhaltskosten tragen, wenn sie schon seit mehr als 120 Tagen in Polen leben. Sind sie schon 180 Tage hier, gilt ab dem 1. Mai eine Selbstbeteiligung von 75 Prozent. Kajetan Wróblewski regt das auf: „Rechtlich gesehen sind sie keine Flüchtlinge, ihren Status bestimmt ein ständig novelliertes Sondergesetz. Bei dieser Inflation und den niedrigen Löhnen sind sie doch nicht in der Lage, in so kurzer Zeit auf eigenen Füßen zu stehen.“ Deshalb ermuntert seine Stiftung die Ukrainer, in Länder mit einer besseren Sozialfürsorge zu gehen, hauptsächlich nach Skandinavien. Von Deutschland rät Wróblewski ab, denn das Land sei schon überfüllt mit Flüchtlingen.

Stimmung kann umschlagen

Dennoch sieht Wróblewski auch Positives: Die gegenwärtige Situation biete seit Langem die Chance, freundschaftliche Beziehungen zwischen den beiden Ländern zu knüpfen. Es sei jedoch leicht, diese Chance zu verspielen. Das befürchten auch die beiden Soziologen Przemysław Sadura und Sławomir Sierakowski. Sie haben Ende 2022 ein Buch veröffentlicht, welches das Verhältnis zwischen Polen und Ukrainern soziologisch betrachtet: „Die Polen sind für die Ukraine, aber gegen die Ukrainer“ heißt es. Den beiden Autoren zufolge ist die massive Hilfe der Polen für das Nachbarland eine Form, etwas gegen die eigene Angst zu tun. Sie warnen jedoch: Wenn sich die wirtschaftliche Situation in Polen weiter verschlechtert und der Staat weiterhin ineffektiv handelt, könne die Stimmung auch umschlagen – von Hilfsbereitschaft in Abneigung gegen die Ankömmlinge aus dem Osten.

Mirosław Wlekły ist Reporter, Schriftsteller und Sachbuchautor. 2019 erschien sein Buch „Gareth Jones“ über einen britischen Journalisten, der den Völkermord des Holodomor in der Ukraine beschrieb.