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Lateinamerika
Lateinamerika – Ein Weckruf für die politische Klasse

Unsere Lateinamerika-Expertin Diana Luna analysiert die anhaltenden Proteste auf dem Kontinent
Protestierende in Chile
A woman bangs a pot, a sign of protest, during an anti-government music concert in O'Higgins Park in Santiago, Chile. © picture alliance / AP Photo

Der Oktober brachte für Lateinamerika viele Umbrüche und kann als Zäsur betrachtet werden. Neben sozialen Unruhen und gewaltsamen Protesten kam es zu gravierenden Beschwerden von Wahlbetrug oder es wurde der politische Kompass neu ausgerichtet. Die Versuchung, eine ganze Region zu pauschalisieren oder gar zu stigmatisieren, ist groß. Gerade deshalb soll nachfolgend ein differenzierter Blick auf die aktuelle Lage in den Andenländern Ecuador, Chile und Bolivien dem entgegenwirken und diese entsprechend einordnen, fordert unsere Lateinamerika-Expertin Diana Luna. 

Die Massenproteste in Ecuador, Chile und Bolivien bilden drei unterschiedliche Realitäten ab, geeint durch eine gemeinsame politische DNA: Wut und Unmut gegen eine politische Elite, der es an Bürgernähe mangelt und die die Stimme des Volkes kaum mehr wahrnimmt.

Ecuador – Die Auswirkung 10-jähriger Planwirtschaft

Vor der Senkung der Kraftstoffsubventionen befand sich Ecuador in einer besonders prekären wirtschaftlichen Lage. Im Zuge der zehnjährigen Planwirtschaft hinterließ Ex-Präsident Rafael Correa das Land mit einem riesig aufgeblähten Staatsapparat, einer hohen Verschuldung und in einer Rezession. Um die Situation zu stabilisieren folgte der neu gewählte Präsident Lenín Moreno den Bedingungen des IWF und kürzte Subventionen. Diese Schocktherapie wirkte sich nicht nur auf die Benzinpreise aus, sondern erzürnte auch in besonderem Maße die Landbevölkerung. Dass insbesondere Großverdiener von den Subventionen stark profitierten, wird wenig berücksichtigt und spielte bei den Protesten bislang keine Rolle.

Vor dem Hintergrund der niedrigen Rohstoffpreise und der schwachen Wirtschaftsleistung Ecuadors erscheinen die Maßnahmen konsequent. Experten kritisieren jedoch, dass die aktuelle Regierung nicht rechtzeitig für einen sozialen Ausgleich z.B. durch Barauszahlungen an die ärmste Bevölkerungsschicht gesorgt hat. Obwohl Präsident Moreno die Erhöhung der Benzinpreise zurückgezogen hat, bleibt abzuwarten, ob und wie die Regierung Morenos mit dem sozialistischen Erbe Correas umgeht, um Ecuador auf einen nachhaltigen und wettbewerbsfähigen Weg zu bringen. Ohne Therapie besteht die Gefahr der wirtschaftlichen Instabilität und damit einer weiteren extremen Krise venezolanischer Prägung oder eventuell eines Bankrotts argentinischer Prägung.

Chile – Absage des Weltklimagipfel COP25 und eine soziale Agenda

Obwohl die Proteste in Chile genauso wie in Ecuador aufgrund von Preiserhöhungen entstanden, ist die Ausgangslage komplett anders. Die chilenische Realität ist Meilen entfernt von der ecuadorianischen. Das chilenische Modell hat es trotz aller Fehler geschafft, die Armutsrate in der letzten 30 Jahren um 30 Prozent zu senken. Mit seiner Aufnahme in die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) spielt Chile seit 2010 als erstes südamerikanisches Land wirtschaftlich in der ersten Liga. Warum gibt es dann diese Ausschreitungen?

Der Auslöser der Unruhen im Musterland Lateinamerikas war zunächst eine minimale Erhöhung der Preise für U-Bahn-Tickets in der Hauptstadt Santiago. Zunächst friedliche Studentenproteste führten schnell zu gewaltsamen Ausschreitungen, die sich zu Massenprotesten entwickelten, in denen die Menschen auf Kochtöpfe schlugen (eine Tradition, die unter Staatsführer Salvador Allende auf hungernde Bevölkerungsschichten verwies). Die ersten Reaktionen von Präsident Sebastian Piñera und seinem Kabinett, die von wenig Bürgernähe und fehlender Empathie zeugten, heizten die Proteste weiter an, sodass schließlich auch das Militär erstmals seit der Diktatur Pinochets wieder auf der Straße eingreifen musste, um die Ordnung wiederherzustellen. Aktuell werden Fälle von Menschenrechtsverletzungen von der Justiz überprüft.

Damit können zwischen den Protesten in Chile und Ecuador bereits zwei Unterschiede festgehalten werden: Ein erster Unterschied besteht in den Demonstrierenden. Während in Ecuador hauptsächlich Indigene und die Landbevölkerung in der Hauptstadt Quito demonstrieren, werden die Proteste in Chile in großen Städten wie Santiago, Concepción, Rancagua und Punta Arena von den Stadtbewohnern getragen – gerade dort, wo sich in den letzten drei Jahrzehnten auch eine Mittelschicht etabliert hat. Zweitens unterscheiden sich die Proteste in den Forderungen und den Urhebergruppen. Während sich die Gruppe der Indigenen und der Landbevölkerung in Ecuador sehr geschlossen mit recht deutlichen Forderungen an die Regierung wendet, sind die chilenischen Proteste durch eine Vielzahl divergierender Forderungen unterschiedlicher Gruppen gekennzeichnet, die unter dem Dach einer inklusiveren Entwicklung zusammengefasst werden können. Dazu zählen u.a. Forderungen nach einem angemessenen Rentensystem, Zugang zu und bessere Qualität von öffentlichen Gütern wie Bildung, Gesundheitsversorgung, Elektrizität und bezahlbare Wohnungen. 

Dass der chilenische Präsident Piñera später einen „mangenden Weitblick“ einräumte und sich bei der chilenischen Bevölkerung entschuldigte, verdeutlicht wie sehr die Regierung diese anfänglichen Studentenproteste und die daraus entstandenen Protestwellen unterschätzt hat. Mit weiteren Maßnahmen wie einer Kabinettsumbildung sowie Ankündigungen sozialer Reformen wie einer Krankenversicherung für schwere Krankheiten, der Senkung von Medikamenten- und Strompreisen sowie der Einführung eines Spitzensteuersatzes und der Erhöhung der Mindestrente um 20 Prozent wurden einige der Forderungen der Proteste aufgegriffen. Trotz dieser Ankündigungen ist ein Ende der sozialen Unruhen nicht in Sicht. Ein Grund dafür sind die heterogenen Forderungen und die fehlenden Partner, die einen Dialogprozess erschweren. Eine Rolle spielen dabei linksradikale Gruppen, die ihre ideologischen Vorbilder in Kuba und Venezuela haben und mit gewalttätigen Aktionen eine Strategie der Provokation und Destabilisierung verfolgen. Diese Gruppe war, anders als die friedlichen Demonstranten, gut vorbereitet und koordiniert. Sie haben es geschafft 70 Metro-Stationen zu entzünden. Die Absage des Weltklimagipfels und des Wirtschaftsforums APEC erscheinen folgerichtig – sei es doch jetzt an der Zeit die öffentliche Ordnung sowie die Sicherheit der Bürger wiederherzustellen und eine neue soziale Agenda zu erarbeiten, wie der Präsident jüngst verkündete.

Trotz der anhaltenden Proteste dürfen Chiles Erfolge z.B. bei der Armutsbekämpfung oder der Wirtschaftsstabilität bis dato nicht übersehen werden. Jedoch erscheint ein kritischer Blick auf die Schwachstellen des chilenischen Modells sowie die rigiden Machstrukturen erforderlich. Auch wenn das Korruptionsniveau Chiles im Vergleich zu seinen Nachbarländern deutlich geringer ist, leidet das Land unter illegalen Preiseabsprachen u.a. im Einzelhandel oder der Pharmaindustrie. Weiterhin bietet das wirtschaftliche und politische Modell nicht ausreichende Rahmenbedingungen sowie institutionalisierte Kontrollmechanismen, um beispielsweise Industriekartelle zu brechen und damit für fairen Wettbewerb zu sorgen. Das Grundproblem ist dabei, dass sowohl die wirtschaftliche als auch die politische Macht in den Händen weniger und oft derselben Familien konzentriert sind.

Wie auch in Ecuador stellt sich auch für Chile die Frage, inwieweit die Regierung den Forderungen der Proteste entgegenkommen kann. Dabei erscheint die Vielzahl der Forderungen in Chile eine besondere Herausforderung. Die angekündigten tiefgreifenden Sozialreformen können entweder durch neue Staatschulden und/oder durch eine Steuerreform ermöglicht werden. Es ist bekannt, dass der Anteil des Steueraufkommens in Chile lediglich bei 20 Prozent des BIP liegt, während der Durchschnitt der OECD-Länder 34 Prozent beträgt. Damit bleibt es für Chile eine Herausforderung, einerseits soziale Reformen und eine Steuerreform erfolgreich umzusetzen, ohne andererseits die Innovationskraft und Produktivität des Landes zu gefährden. 

Bolivien – Nein zu Morales und das Ende einer Alleinherrschaft?

Während sich in Chile der soziale Unmut gegen die politische Klasse und damit sowohl gegen die Regierung als auch die Opposition richtet, haben die Proteste in Bolivien mit der Regierung und ihrer Verbündeten um Präsident Evo Morales ein klares Feindbild (durchaus vergleichbar mit Venezuela). Der Fall Boliviens zeigt, wie schnell fragile Demokratien durch autoritäre Machthaber unterminiert werden können. Der Wiederwahl des Präsidenten war in Bolivien vor der Wahl von Morales juristisch nicht möglich. Im Laufe seiner Präsidentschaft hat Evo Morales die institutionellen Einschränkungen, die eine Wiederwahl verhinderten, durch eine neue Verfassung ausgehebelt. Um seine vierte Präsidentschaftskandidatur zu ermöglichen, wurde 2016 ein Referendum mit dem Ziel einer Verfassungsänderung durchgeführt. Peinlicherweise für Morales wurde diese Verfassungsänderung von der Mehrheit der Wähler abgelehnt. Trotz der Ablehnung kippte ein Verfassungsrichter die Entscheidung und ermöglichte Morales damit, nochmal anzutreten. Obwohl das Urteil als eindeutig verfassungswidrig eingestuft wurde, konnten eine fehlende Gewaltenteilung sowie die schwachen Institutionen im Land eine vierte Präsidentschaftskandidatur nicht stoppen. 

Am 20. Oktober fanden die Präsidentschaftswahlen statt. Die ersten Ergebnisse des offiziellen Wahltribunals deuteten auf eine Stichwahl im Dezember hin. Zwischen Morales und dem Oppositionskandidat Mesa lagen weniger als 10 Prozentpunkte. Daraufhin wurde plötzlich die offizielle Zählung gestoppt. Am darauffolgenden Tag wurden die Endergebnisse mittgeteilt, die Morales mit einem Vorsprung von über 10 Prozent zum Präsidenten kürten und damit eine Stichwahl umgingen. Die klaren Anzeichen für Wahlbetrug wurden von internationalen Beobachtern sowohl von der Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) als auch der EU angeprangert. Die OAS, die EU sowie die Bundesregierung setzen sich weiter dafür ein, eine Stichwahl durchzuführen, um die demokratische Entscheidung des Volks zu respektieren.

Vor der Ankündigung der offiziellen Ergebnisse und trotz der starken Kritik verkündigte am Wahltag Evo Morales seinen Sieg. Die sozialen Unruhen ließen nicht lange auf sich warten. Den friedlichen Protesten begegnete das Morales-Regime mit Repressalien. Derweil polarisiert der unrechtmäßige Präsident weiter die Gesellschaft, sodass die latente Spaltung zwischen den Indigenen sowie der Landbevölkerung allgemein auf der einen Seite und der urbanen Bevölkerung auf der anderen Seite neu befeuert wurde. Besonders groß ist der Unmut unter den Erstwählern, die gegen die Fortsetzung der 14-jährigen Alleinherrschaft demonstrieren. Seit zwei Wochen kommt das Land nicht zur Ruhe und die Demonstrationen breiten sich landesweit aus. Im Laufe der zwei Wochen wurden die Forderung der Demonstranten inzwischen konkreter: Sie fordern, dass die Wahlen annulliert werden.

Die OAS kam der Regierung Morales zuletzt mit der Bitte um eine Überprüfung der Stimmenauswertung entgegen (die Empfehlung war zunächst eine Stichwahl). Dieser Kompromiss wird jedoch von der Opposition streng abgelehnt. Während die Kundgebungen weiterlaufen, fordern mehr und mehr Menschen den Rücktritt Morales‘.

Während es sich folglich in Ecuador und in Chile um soziale Unruhen handelt, die primär soziale Missstände anprangern, wenn auch auf sehr unterschiedlichem Niveau, so richten sich die Proteste in Bolivien gegen einen offensichtlichen Wahlbetrug. Dabei haben die Proteste zuletzt die lange zerstrittene Opposition im Land geeinigt. Es bleibt jedoch unklar, wie der Alptraum enden kann. Klar ist, dass die juristische Trickserei und die Aushebelung des Referendums bereits Schaden an der fragilen Demokratie in Bolivien angerichtet haben und die intransparenten Wahlen das Fass nun zum Überlaufen gebracht haben. Auch in diesem Fall bleibt zu hoffen, dass die Regierung einlenkt und den Wählerwillen schließlich respektiert. 

Die Andenregion – Ein Weckruf für die politische Klasse in Lateinamerika

Trotz der unterschiedlichen Realitäten der Proteste scheint es eine gemeinsame DNA der Proteste zu geben. Die Menschen sind bereit, auf die Straße zu gehen, weil sie den Eindruck haben, dass ihre Forderung kaum von der politischen Klasse wahrgenommen werden. Die harte Reaktion der Regierung gegenüber den Demonstranten bestätigt die These, dass die politischen Akteure und Systeme jedweder Couleur kein Gefühl mehr für die Bedürfnisse und Notwendigkeiten der Bürgerinnen und Bürger ihres Landes haben, wie auch der Lateinamerikaexperte Prof. Maihold von der Stiftung Wissenschaft und Politik zuletzt bei Deutsche Welle betonte.

Es bleibt abzuwarten, ob und inwieweit die aus den Protestwellen der Unmut entstandenen Forderungen einen Platz in den politischen Arenen der Andenstaaten gewinnen werden. Im Fall von Chile haben die Proteste des Jahres 2011, die ein besseres und bezahlbareres Bildungssystem forderten, lediglich zum Einzug einer neuen Partei ins Parlament geführt, die keine auschlaggebenden Ergebnisse lieferte. Nichtsdestotrotz stellen die sozialen Unruhen nicht nur einen Weckruf für alle demokratischen Kräfte in der Andenregion dar, sondern sie können als demokratisches Rufen im gesamten lateinamerikanischen Raum nach politischen und wirtschaftlichen Modellen betrachtet werden, die mehr soziale Gerechtigkeit mit einer nachhaltigen Entwicklung vereinen. 

 

Diana Luna ist Referentin für die Region Lateinamerika