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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Inflation
Inflation: Der Kipppunkt?

Die Gewerkschaft Verdi fordert 10,5 Prozent mehr Lohn im öffentlichen Dienst. Sind wir wieder in den siebziger Jahren?
Tarifverhandlungen

Pressekonferenz der Gewerkschaften zu Forderungen für die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen

© picture alliance/dpa | Wolfgang Kumm

Von Mark Twain stammt angeblich das Bonmot: “History does not repeat itself, but it does rhyme.” Und so überkommt einem älteren Beobachter – der Verfasser dieser Zeilen ist 66 Jahre alt – bei der jüngsten Tariflohnforderung ein beklommenes Gefühl des “Dejà-vu”. Vor 48 Jahren, nach der ersten großen inflationären Preiswelle der späten Jahre des Bretton-Woods-Systems, gab es im öffentlichen Dienst Lohnerhöhungen in zweistelliger Größenordnung, die legendäre “Kluncker-Runde 1974”. Sie läutete endgültig die Lohn-Preis-Spirale ein, die erst Anfang der achtziger Jahre gebrochen wurde – in Deutschland im Gefolge einer scharfen restriktiven Wendung der Bundesbank im Gefolge der strikt stabilitätsorientierten Politik des amerikanischen Fed-Chefs Paul Volcker.

Ergebnis en passant: zwei scharfe Rezessionen 1973/5 und 1981/3, in Deutschland eine Welle der De-Industrialisierung und auf Dauer über zwei Millionen Arbeitslose. Natürlich nicht allein wegen der Tariflohnabschlüsse im öffentlichen Dienst, denn auch die Industrie zog nach (oder eilte voraus). Und natürlich auch nicht allein wegen der Lohnpolitik, denn parallel strömte die Generation der Babyboomer auf den Arbeitsmarkt und suchte Jobs. Aber insgesamt ist klar: Wenn die Lohn-Preis-Spirale in Gang kommt, hilft nur ein scharfes makroökonomisches Bremsmanöver – und das kostet massive wirtschaftliche Substanz.

Ist es heute wieder so weit? Noch können wir nur darüber spekulieren, denn wir wissen nicht, wie schließlich die Tarifverhandlungen abgeschlossen werden, bei Forderungen von über 10 Prozent im öffentlichen Dienst und 8 Prozent in der Metallindustrie. Die Preisinflation ist heute sogar höher als damals, ein Argument für die Gewerkschaften, in den Verhandlungen zur Verteidigung und Erhöhung der Reallöhne hart zu bleiben. Allerdings ist sie bisher noch weniger langfristig angelegt, denn der Anstieg der Energiepreise war extrem kurzfristig und scharf, schärfer noch als vor knapp 50 Jahren. Und noch ein Unterschied fällt ins Gewicht: Der Staat hat massive finanzielle Entlastungen auch der (gasverbrauchenden) Arbeitnehmer angekündigt. Grund also, bei den Tarifverhandlungen vorsichtiger zu sein – im Sinne dessen, was Karl Schiller vor über 50 Jahren eine “konzertierte Aktion” nannte: Alle "Sozialpartner” leisten ihren Beitrag, um die Inflation wieder unter Kontrolle zu bringen.

Fazit: Es steht überaus viel auf dem Spiel. Der Aufschlag der Gewerkschaft Verdi in dieser Woche war überaus hart und rücksichtslos. Es gilt, einen vernünftigen Weg des Kompromisses zu finden, um eine Lohn-Preis-Spirale rechtzeitig aufzufangen und zurückzudrehen. Daran sollten alle ein Interesse haben, auch wenn die Knappheit an Arbeitskräften die Machtposition der Gewerkschaften in einer Weise stärkt, die es in dieser Form seit mehreren Dekaden nicht mehr gegeben hat – eben seit den frühen siebziger Jahren. Frei nach Mark Twain ließe sich formulieren: “History does not repeat itself, and it shouldn’t!”