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Frankreich
Frankreichs neue Sicherheitsstrategie: Mehr Leadership in der EU?

Der französische Präsident Emmanuel Macron
© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Gonzalo Fuentes

Der französische Präsident Emmanuel Macron hat am 9. November die neue nationale Sicherheitsstrategie Frankreichs ("revue nationale stratégique") vorgestellt. Die letzten Strategien stammten aus den Jahren 2017 und 2021. Doch angesichts des anhaltenden russischen Krieges in der Ukraine war eine Aktualisierung erforderlich geworden. Die Strategie wurde daher im Eilverfahren ausgearbeitet, um Lehren aus dem Krieg in der Ukraine zu ziehen. Sie bietet den Startpunkt für die parlamentarische Debatte über das nächste Militärplanungsgesetz für den Zeitraum 2024-2030. Frankreich muss mit seiner strategischen militärischen Kultur keine Kehrtwende vollziehen, wie sie Deutschland mit der "Zeitenwende" in seiner Außen- und Sicherheitspolitik vollzogen hat. Dennoch bereitet der französische Präsident Emmanuel Macron mit seiner neuen Strategie das französische Volk letztendlich auf die Möglichkeit eines Krieges vor, in den Frankreich hineingezogen werden könnte. Es handelt sich also nicht nur um ein einfaches Papier, das für politische Beamte auf höchster Ebene bestimmt ist. Das Strategiepapier dient also nicht nur Experten, sondern ist für die französische Gesellschaft insgesamt bestimmt, indem die „öffentliche Kommunikation an die Herausforderungen für mehr Resilienz“ angepasst werden sollen. Die Strategie wurde kurz vor der bevorstehenden deutschen nationalen Sicherheitsstrategie veröffentlicht, die Anfang 2023 und einige Monate nach dem neuen strategischen Konzept der NATO und dem Strategischen Kompass der Europäischen Union erscheinen soll - eine Premiere für Deutschland. In der französischen Strategie heißt es ausdrücklich, dass sie mit diesen beiden Dokumenten im Einklang steht und sie ergänzt. Sie enthält eine Vision für die Sicherheit Frankreichs bis 2030 und zehn strategische Ziele (siehe Infografik). Die Landesverteidigung und die Bündnisverteidigung im Rahmen der NATO werden in den Vordergrund gerückt, indem der Schwerpunkt stärker auf die Ostflanke gelegt wird, während der Terrorismus und die Entsendung von Truppen ins Ausland auf der Prioritätenliste nachrangig sind.

Zehn Prioritäten der französischen nationalen Sicherheitsstrategie

1. Robuste und glaubwürdige nukleare Abschreckung
2. Ein geeintes und widerstandsfähiges Frankreich
3. Verteidigungswirtschaft
4. Cyber-Resilienz
5. Euro-atlantische Beziehungen
6. Europäische strategische Autonomie
7. Verlässliche Souveränität
8. Garantierte Bewertungsautonomie und Entscheidungshoheit
9. Verteidigungs- und Handlungsfähigkeit im hybriden Bereich
10. Handlungsfreiheit zur Durchführung militärischer Operationen

Schwerpunkt auf hybriden Kriegen und Cybersicherheit

In einer Pressekonferenz am vergangenen Mittwoch kündigte Emmanuel Macron an, dass Einflussnahme angesichts von Desinformationskampagnen und ausländischer Einmischung durch Feinde weltweit den Rang einer neuen „strategischen Funktion" innerhalb der französischen Verteidigungspolitik erhält. „Wir werden nicht geduldig zusehen", wie Falschinformationen oder feindliche Narrative über Frankreich verbreitet werden, und „Überzeugungsarbeit gehört eindeutig zu den strategischen Erfordernissen", sagte der französische Präsident und kündigte an, entsprechende Mittel für diese Bemühungen bereitzustellen.

Die Rolle von Cybersicherheit und Content-Regulierung, die der französische Präsident ebenfalls auf dem Pariser Friedensforum hervorhob, ist in diesem Zusammenhang von entscheidender Bedeutung. Mit Macrons Schwerpunkt auf hybriden Bedrohungen und Cybersicherheit steht die neue französische Sicherheitsstrategie auch ganz im Einklang mit dem Aspekt "Sichern“, der eine der vier Säulen - Handeln, Sichern, Investieren, mit Partnern zusammenarbeiten - des Strategischen Kompasses der EU ausmacht, dem ersten EU-Dokument zur gemeinsamen Bedrohungswahrnehmung, das während der französischen Ratspräsidentschaft in diesem Sommer verabschiedet wurde. Sie ist auch ein wesentliches Element der kommenden deutschen Strategie, die von der deutschen Verteidigungsministerin Christine Lambrecht in einer Rede Mitte September und von der deutschen Innenministerin Nancy Faeser Mitte November bei der DGAP hervorgehoben wurde, die beide einen Vorgeschmack auf den neuen deutschen Fahrplan gaben.

Die Beziehungen zwischen Frankreich und der NATO wieder in Einklang bringen

Nach der Aufregung um Macrons harsche Einschätzung, die NATO sei „hirntot", stellte der französische Präsident klar, dass die transatlantische Zusammenarbeit ein wesentlicher Bestandteil der französischen Sicherheitspolitik bleibe. Die transatlantischen Beziehungen sind das fünfte der zehn Prioritäten, noch vor der europäischen Dimension und dem Verweis auf die europäische Souveränität, Macrons Lieblingsthema seit seiner Sorbonne-Rede vor fünf Jahren. Frankreich will eine Referenz innerhalb der NATO darstellen und sich angesichts seiner nuklearen und allgemeinen Verteidigungskapazitäten eine „einzigartige Position innerhalb der Allianz" sichern. Bis 2030 soll die französische Armee „eine starke transatlantische Verankerung" aufweisen und Frankreich die Rolle eines „beispielhaften Verbündeten“, der einen „pragmatischen Ansatz“ verfolgt, übernehmen. Angesichts der jüngsten Debatten über die Stärkung der europäischen Verteidigungskapazitäten, die Frankreich mit Projekten für Luftverteidigungssysteme wie dem Future Combat Air System (FCAS) oder französischen Alternativen zu amerikanischen und israelischen Waffensystemen vorantreibt, ist „pragmatisch“ keine selbstverständliche Formulierung, wenn es um die Beziehungen Frankreichs zum transatlantischen Bündnis geht.

Der Ausbau der europäischen Verteidigungskapazitäten stärkt die NATO, aber Frankreichs Ziel bleibt weiterhin die strategische Autonomie Europas. Nicht zuletzt beansprucht Frankreich hier also eine Führungsrolle innerhalb der neuen europäischen Sicherheitsarchitektur.

Französische geopolitische Prioritäten weltweit in Erinnerung rufen

Wie in der neuen Sicherheitsstrategie dargelegt, sind andere Regionen der Welt, in denen Frankreich strategische Interessen hat, trotz der Konzentration auf den Krieg in der Ukraine weiterhin von Bedeutung für die französische Außen- und Sicherheitspolitik. Dies betrifft in erster Linie den afrikanischen Kontinent, für den in den kommenden sechs Monaten nach Abstimmung mit afrikanischen Partnern eine ganz eigene Strategie vorgelegt werden soll. Die Vorstellung der neuen französischen Sicherheitsstrategie markierte auch das endgültige Ende der Militäroperation Barkhane in Mali, die im Januar 2013 mit bis zu 3.000 Soldaten gestartet wurde und deren Ergebnisse vor Ort allgemein als dürftig empfunden wurden. Macron kündigte daher einen neuen Ansatz an, wonach die französische militärische Unterstützung und Zusammenarbeit in der Region künftig nur noch auf Nachfrage afrikanischer Machthaber erfolgen soll.

Erinnerung an die Bedeutung der deutsch-französischen verteidigungspolitischen Zusammenarbeit

Emmanuel Macron erinnerte an den Willen Frankreichs, die Beziehungen zu Deutschland im verteidigungspolitischen Bereich zu stärken, und hofft auf „entscheidende Fortschritte in den kommenden Wochen“. Die Spannungen zwischen Frankreich und Deutschland hatten wegen gemeinsamer Verteidigungsinitiativen zugenommen, insbesondere wegen der von Olaf Scholz gemeinsam mit 15 europäischen Mitgliedstaaten vorgeschlagenen European Sky Shield Initiative, an der sich Frankreich nicht beteiligt, da es bekanntlich bereits über ein eigenes Raketenabwehrsystem verfügt. Macron hatte angeboten, den französischen Luftverteidigungsschirm mittelfristig auf interessierte Länder auszuweiten, um eine Front gegen russische Angriffe zu bilden, ein Angebot, das Scholz mit Hinweis auf Interoperabilität innerhalb der NATO und der sofortigen Verfügbarkeit von Waffensystemen ablehnte. Diese Blockade führte mitunter nicht zuletzt zur Absage des deutsch-französischen Ministerrats. In dieser Hinsicht soll Macrons Schritt, Deutschland wegen seiner mangelnden Solidarität öffentlich an den Pranger zu stellen und gleichzeitig weiterhin die Hand zu reichen, frischen Wind in die eingefahrene Situation bringen. Obwohl der französische Präsident und Olaf Scholz beschlossen haben, eine entsprechende deutsch-französische Arbeitsgruppe zum Thema Verteidigung auf höchster Ebene ins Leben zu rufen, ist es unwahrscheinlich, dass die Differenzen in diesen teils hochtechnischen Industriefragen bald beigelegt werden. Vor diesem Hintergrund kam Macrons Ankündigung, eine weitere Zusammenarbeit mit dem Vereinigten Königreich anzustreben, wenig überraschend, da sich Frankreich von seinem größten Verbündeten Deutschland nicht ernst genommen genug fühlt. Ein neues Gipfeltreffen mit dem Vereinigten Königreich soll daher Anfang 2023 stattfinden.

Der französische Weckruf sollte Deutschland dazu veranlassen, den französischen Impulsen für weitere Verteidigungsinitiativen zumindest auf halbem Wege entgegenzukommen. Wie ein neuer Bericht der Europäischen Verteidigungsagentur gerade aufgezeigt hat, werden nämlich nur 18 % der Verteidigungsinvestitionen von den Mitgliedstaaten gemeinsam getätigt. Neben der rhetorischen Übereinstimmung müssen die EU und insbesondere Frankreich und Deutschland ihre Beziehungen vertiefen, um ernsthaft und gemeinsam in militärische Fähigkeiten zu investieren, anstatt durch isolierte Schritte Ressourcen und Handlungsfähigkeit zu verlieren. Dabei wäre die Berücksichtigung von Frankreich bei der finalen Ausarbeitung der neuen nationale Sicherheitsstrategie Deutschlands ein wichtiges politisches Signal.

Jeanette Süß ist European Affairs Managerin im Regionalbüro „Europäischer Dialog“ der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Brüssel und leitet dort die Frankreich-Aktivitäten.