Frankreich
Kabinett Lecornu 2: Neue Regierungsmannschaft, neues Glück?
Der französische Premierminister Sébastien Lecornu.
© picture alliance / SIPA | JEANNE ACCORSINIDie am Abend des 12. Oktober verkündete Regierungsbildung unter Premierminister Sébastien Lecornu steht programmatisch ganz im Zeichen der aktuellen Notlage, in der sich Frankreich momentan befindet: Die neue Regierung verzichtet auf persönliche Machtansprüche, versteht sich als Ad-hoc-Kabinett mit dem primären Ziel, den Haushalt bis Jahresende zu beschließen. Alles deutet darauf hin, dass Lecornu selbst mit einer Übergangsfrist kalkuliert. Bemerkenswert ist die Rekordzeit in der Ernennung von 34 neuen Ministern, nicht zuletzt verursacht durch den Umstand, dass Staatspräsident Emmanuel Macron unmittelbar nach Ägypten weiterreist und eine rasche Handlungsfähigkeit in Paris gewährleisten musste.
Macron hat dabei Lecornu erstmals freie Hand bei der Ministerauswahl gelassen – ein deutlicher Kontrast zum ersten, nach nur 14 Stunden gescheiterten Kabinett, das stark vom Präsidenten dominiert war. Viele Minister kommen eher aus der Verwaltung oder Zivilgesellschaft denn aus der klassischen Politik. So etwa der Pariser Polizeipräsident Laurent Nuñez als neuer Innenminister, Betriebsbahnchef Jean-Pierre Farandou als neuer Arbeitsminister, der vor der Herkulesaufgabe steht, die polarisierten Rentenreformdebatten neu aufzunehmen oder Monique Barbut, ehemalige WWF-Chefin als neue Umweltministerin. Dennoch bleiben mit 12 von 18 vorherigen Ministern des ersten Kabinetts Lecornus vom 5. Oktober einige Vertraute des Präsidenten Teil der Regierungsmannschaft wie etwa Roland Lescure (Wirtschaft), Jean-Noël Barrot (Außenpolitik), Rachida Dati (Kultur) oder Catherine Vautrin (Verteidigung). Gérard Darmanin führt das Justizressort weiter trotz ihm nachgesagter präsidentieller Ambitionen, die er jedoch von sich wies.
Vertrauenskrise und Zersplitterung auch im macronistischen Präsidentenlager
Dass die Fronten zwischen den unterschiedlichen politischen Lagern sichtbar verhärtet sind, ist kein Geheimnis, doch seit dem Fiasko der ersten Regierungsbildung unter Lecornu Anfang Oktober weiten sich auch die Gräben innerhalb des Präsidentenlagers, einem Zusammenschluss der macronistischen Partei Renaissance mit dem Mouvement Démocrate (Partei des ehemaligen Premierministers François Bayrou), Horizon (Partei des ehemaligen Premierministers Edouard Philippe) und anderen zentristischen Kleinstparteien.
So forderte Horizon-Chef Edouard Philippe nach dem Zusammenbruch des ersten Kabinetts Lecornus sogar vorgezogene Präsidentschaftswahlen, wenngleich Horizon-Mitglieder noch Teil der Regierung sind. Zuletzt distanzierte sich auch die UDI offen von dem Präsidentenlager. Deren Vorsitzender, Hervé Marseille, der die zentristische Gruppe im Senat leitet, brachte sogar ein Misstrauensvotum im Nachgang der Regierungserklärung Lecornus diese Woche ins Spiel, was die fragile Mehrheit des Präsidentenlagers noch weiter infrage stellt.
Regierung am seidenen Faden: Zwischen Tolerierung und Blockade
Die neue Regierung kann aktuell nur auf Unterstützung in Form einer begrenzten Tolerierung hoffen – vor allem von den Sozialisten unter Olivier Faure und den konservativen Républicains unter Bruno Retailleau, die jeweils eine direkte Regierungsbeteiligung ausschlossen. Allerdings haben beide politische Lager dafür klare Bedingungen gestellt. Für die Sozialisten und die Grünen ist zentral, dass der Artikel 49.3, mit dem Gesetze am Parlament vorbei durchgesetzt werden können, weiterhin keine Anwendung erfahren darf und die Rentenreform neu verhandelt werden soll. An der Rentenreform war bereits François Bayrou im Sommer gescheitert, nachdem bei seiner monatelang dauernden „Konklave“, die die verschiedenen Sozialpartner eigentlich in den Dialog mit der Politik bringen sollte, keine Einigkeit erzielt werden konnte.
Die Republikaner zeigen sich hingegen punktuell gesprächsbereit – anders als die linke La France Insoumise und der rechte Rassemblement National, deren kategorische Ablehnung jedweder neuen Regierung unter Emmanuel Macron zu weiteren Misstrauensvoten gegen Lecornu führen wird. So kann Lecornu einzig von der Tatsache profitieren, dass das jeweilige links- bzw. rechtsextreme Lager nicht dem Misstrauensantrag des jeweiligen Anderen zustimmen möchte und daher den Républicains, Sozialisten und die Grünen die Rolle des Züngleins an der Waage zukommt.
Frankreichs Ansehen auf der internationalen und europäischen Bühne ist beschädigt
Die politische Instabilität Frankreichs schwächt sein internationales Ansehen und sein Gewicht in der EU spürbar. Die ständigen Regierungswechsel machen Paris zu einem unberechenbareren Partner in Brüssel. Denn mit jedem neuen Kabinett müssen gemeinsame Projekte stets wieder neu verhandelt werden. Trotz Macrons außenpolitischer Sichtbarkeit, etwa als Mitinitiator der „Koalition der Willigen“ zur Ukraine-Hilfe, wird Frankreich von den internen Krisen gebremst. So können die europäischen Partner zunehmend nach Berlin schauen, das mit Bundeskanzler Friedrich Merz die Europa- und Außenpolitik zur Chefsache erklärt hat. Es wird sich zeigen, inwieweit Macron es neben Merz beim anstehenden Europäischen Rat am 24. Oktober noch vermag, eigene politische Akzente zu setzen.
Insbesondere die französische Haushaltslage bleibt eine zentrale Sorge innerhalb der Eurogruppe. Mit einer Schuldenquote von über 112% des BIP, historisch hohen Zinszahlungen und einer schwankenden Marktlage droht ein weiterer Vertrauensverlust. In der letzten Woche musste Roland Lescure, geschäftsführender Wirtschafts- und Finanzminister, der im 2. Kabinett Lecornus bestätigt wurde, seine Kollegen beim Ecofin-Rat in Luxemburg zur Geduld auffordern und versicherte, dass Frankreich seine fiskalischen Verpflichtungen bis Weihnachten einhalten werde. Die Unsicherheit bleibt hoch, da strukturelle Reformen wie etwa die Rentenrenform nun wieder in Frage gestellt werden und die Rückkehr zu einem Defizit unter 3% des BIP wohl erst für 2029 erwartet wird.
Welche Perspektiven für die deutsch-französische Zusammenarbeit?
Der französische Regierungswechsel wirkt sich auch direkt auf das deutsch-französische Verhältnis und die europäischen Großprojekte aus. Beim bilateralen Ministerrat am 29. August in Toulon wurden ambitionierte Ziele auf den Feldern Verteidigung, Energie, Wettbewerbsfähigkeit und Ukraine-Unterstützung gesetzt. Vieles bleibt aber bislang Theorie. Häufige Wechsel und Blockaden in Paris verhindern eine zügige Umsetzung gemeinsamer Projekte wie den MGSC (Kampfpanzer), das Luftkampfsystem SCAF oder die Kapitalmarktunion.
Während Bundeskanzler Friedrich Merz offen mit Emmanuel Macron kooperiert, wächst in Berlin die Sorge, dass Frankreich als Motor europäischer Initiative ausfällt und Projekte wie die Verteidigungsunion ins Stocken geraten.
Ausblick
Vor diesem Hintergrund steht Lecornu vor einer doppelten Herausforderung. Kurzfristig muss er den Haushalt 2026 durch die Nationalversammlung bringen, was ohne Kompromisse mit dem linken Lager kaum gelingen kann. Langfristig aber geht es um die Frage, ob das präsidiale System selbst noch funktionsfähig ist. Scheitert Lecornu auch im zweiten Anlauf, könnte Frankreich in eine Verfassungskrise geraten, die nur durch Neuwahlen oder sogar eine institutionelle Neuordnung gelöst werden könnte. So gesehen ist die aktuelle Krise nicht nur eine Episode im Machtspiel zwischen Regierung und Opposition. Sie ist ein Stresstest für die V. Republik und Europa – und möglicherweise das Vorspiel zu einem politischen Umbruch, dessen Konturen erst langsam sichtbar werden.
Jeanette Süß ist seit März 2023 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Studienkomittee für deutsch-französische Beziehungen (Cerfa) des französischen Instituts für internationale Beziehungen (Ifri). Zuvor war sie als European Affairs Managerin beim Brüsseler Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit tätig, wo sie unter anderem die Frankreich-Projekte der Stiftung betreute.