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Frankreich
Frankreich: Fünf Premierminister in drei Jahren

Wie die politische Krise in Frankreich das Land und die deutsch-französischen Beziehungen in Europa ausbremst
Der scheidende französische Premierminister François Bayrou und der neu ernannte Premierminister Sébastien Lecornu während der Amtsübergabe im Hôtel de Matignon in Paris.

Der scheidende französische Premierminister François Bayrou und der neu ernannte Premierminister Sébastien Lecornu während der Amtsübergabe im Hôtel de Matignon in Paris.

© picture alliance / abaca | Liewig Christian/Pool/ABACA

Der deutsch-französische Ministerrat in Toulon Ende August 2025 sollte eigentlich ein Signal der Stabilität setzen: Bundeskanzler Friedrich Merz und Präsident Emmanuel Macron betonten die enge Partnerschaft zwischen Deutschland und Frankreich, präsentierten mit ihren Ministerinnen und Ministern gemeinsame Initiativen zu Wirtschaft, Energie und Verteidigung. Doch nur wenige Tage später wurde die politische Kulisse in Paris erschüttert: Premierminister François Bayrou scheiterte am 8. September mit seiner Vertrauensfrage im Parlament und verlor damit sein Amt. Die Verbindlichkeit der in Toulon gegebenen Zusagen lässt dies zumindest fragil erscheinen.

Zentrale Projekte, etwa Investitionen in Wasserstoffkorridore, der Aufbau einer Kapitalmarktunion, der Abbau von Hindernissen im Binnenmarkt oder Verteidigungskooperationen, hängen unweigerlich an einer stabilen Budgetpolitik und handlungsfähigen Ansprechpartnern. Angesichts der gescheiterten Haushaltspläne Bayrous ist unklar, welche finanziellen Spielräume die neue Regierung tatsächlich nutzen kann. Zwar können Merz und Macron den versprochenen „Neustart“ der deutsch-französischen Zusammenarbeit zu einem gewissen Grad aufrechterhalten, doch die Pariser Regierungskrise stellt die Geschwindigkeit und Glaubwürdigkeit der Umsetzung der verschiedenen Projekte in Frage. Besonders heikel ist das bei Projekten, die ohnehin von Verzögerungen und Misstrauen geprägt sind, wie Claire Demesmay und Matthias Krupa auf einer gemeinsamen Veranstaltung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit mit dem Institut Français Bonn und der Universität Wuppertal betonten (siehe Video unten). Das gemeinsame Kampfpanzervorhaben MGCS liegt seit Monaten auf Eis, weil sich deutsche und französische Industriekonsortien über Führungsrollen und Auftragsverteilung streiten. Auch das milliardenschwere Luftkampfsystem FCAS ist weit davon entfernt, in die nächste Entwicklungsphase einzutreten. Wenn nun zusätzlich unklar ist, ob eine neue französische Regierung die dafür nötigen Mittel priorisiert, droht eine weitere Verzögerung. Hinzu kommen die Folgen der gescheiterten Sparpolitik Bayrous: Welche Spielräume der seit Dienstagabend benannte neue Premierminister Sébastien Lecornu im Haushalt tatsächlich haben wird, ist völlig offen. Für Berlin bleibt damit die Frage, ob Toulon mehr war als ein symbolisches Bekenntnis. Ohne belastbare Partner in Paris könnten die ambitionierten Pläne schnell zur Makulatur werden – und die vermeintliche Stabilitätsachse gerät erneut ins Wanken.

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Frankreich in der politischen Dauerkrise – eine Rückkehr der IV. Republik?

Frankreich steckt in einer innenpolitischen Krise, die über die Frage eines abermaligen Regierungswechsels hinausgeht. Der Rücktritt von Premierminister François Bayrou und die blitzschnelle Ernennung von Sébastien Lecornu legen eine strukturelle Instabilität offen, die an die dunkelsten Jahre der IV. Republik erinnert: An eine Zeit, in der Regierungen im Monatsrhythmus wechselten, ohne dass grundlegende Probleme gelöst wurden. Heute ist die Situation ähnlich. Denn die Ausgangssituation hat sich durch den fünften Wechsel des Premierministers in drei Jahren nicht geändert. Schließlich verfügt das Präsidentenlager über keine absolute Mehrheit im Parlament mit seinen insgesamt 210 Abgeordneten (91 Macrons Ensemble, 49 Republikaner, 36 MoDem, 34 Horizons) von insgesamt 577 Sitzen.

Der fiskalische Druck als Katalysator

Bayrous Versuch, durch einen Sparkurs von rund 44 Milliarden Euro den Haushalt in den Griff zu bekommen, war der unmittelbare Auslöser der aktuellen Blockade, die in den Massendemonstrationen am 10. September „Wir blockieren alles“ (Bloquons tout) ihren vorläufigen Höhepunkt fand. Dicht hinter den angestrebten Einsparungen steht ein strukturelles Problem. Frankreichs Schuldenstand ist einer der höchsten in der Eurozone (113% des PIB, 5,4% Neuverschuldung 2025). Die Zinslast steigt stetig, sodass Frankreich immer mehr Geld aufbringen muss, um seine Schulden zu begleichen.

Dabei sollte der Sparkurs Bayrous vor allem auch ein Signal der Glaubwürdigkeit nach Brüssel und an die internationalen Finanzmärkte senden. Doch innenpolitisch erwies er sich als Brandbeschleuniger. Der Verzicht auf zwei Feiertage, Kürzungen im Gesundheitswesen und Einschnitte bei Sozialleistungen führten zu Protestwellen breiter Bevölkerungsschichten, während Opposition und Gewerkschaften alternative Pfade über Vermögenssteuern, Investitionen und wachstumsorientierte Strategien einforderten.

Die Kritik von EU-Wirtschaftskommissar Valdis Dombrovskis, Frankreich könne durch haushälterisches Zögern die Eurozone destabilisieren, zeigt die Zwickmühle, in der sich Frankreich befindet zwischen externem Konsolidierungsdruck und innerem sozialen Widerstand. Es ist genau diese Spannung, die jede Regierung in Paris seit Jahren verschleißt.

Institutionelle Paralyse

Das größere Problem liegt jedoch im politischen System Frankreichs selbst. Die V. Republik wurde 1958 als Gegenmodell zur Dauerinstabilität der IV. Republik gegründet: Starke Präsidialmacht sollte politische Kohärenz garantieren. Heute aber zeigt sich, dass diese Architektur nicht mehr funktioniert. Seit den Parlamentswahlen 2022 regiert der Präsident ohne klare Mehrheit. Jeder Premierminister ist gezwungen, auf Artikel 49.3 zurückzugreifen – ein Notinstrument, mit dem die Regierung im Parlament Gesetze durchdrücken kann, ohne dass eine Parlamentsmehrheit dafür notwendig wäre. Eine der primären Forderungen der Oppositionsparteien, insbesondere der Parti Socialiste (PS), besteht in den anstehenden Verhandlungen mit dem neuen Premierminister Lecornu nun unter anderem eben darin, den Mechanismus 49.3. abzuschaffen, da dieser die demokratische Legitimität untergraben würde.

So entsteht ein paradoxes Bild der institutionellen Architektur des französischen politischen Systems, das eigentlich Stabilität sichern sollte und nun selbst Instabilität produziert. Lecornu tritt sein Amt in einer Position der Schwäche an – ohne parlamentarische Mehrheit, ohne Zeitbonus und mit einem Haushalt, der zur Zerreisprobe seiner Regierungsfähigkeit wird. Daher wird er wohl kaum den von Bayrou aufgestellten Sparplan als Ausgangspunkt nehmen können, sondern muss neu mit den verschiedenen politischen Kräften verhandeln.

Sébastien Lecornu – ein pragmatischer Friedensstifter?

Lecornu galt seit Langem als Favorit für den Posten im Hôtel de Matignon und wäre bereits nach Michel Barnier schon Premierminister geworden, hätte sich Bayrou nicht einen Vorrang eingeräumt. Als Vertrauter der ersten Stunde ist er der einzige Minister, der seit 2017 in allen Macron-Regierungen vertreten war – ein Status, der ihm den Ruf des Unerschütterlichen eingebracht hat. Politisch stammt er aus den Reihen der traditionell bürgerlich-Konservativen Républicains. 2017 wechselte er ins Präsidentenlager. Damit verkörpert er eine zentristische Figur mit Erfahrung und Stabilität. Lecornu hat bereits heikle Dossiers erfolgreich bearbeitet, etwa die Neuordnung der Streitkräfte im Zuge des Krieges in der Ukraine. Den Konflikt in den französischen Überseegebieten, insbesondere mit Neu-Kaledonien, konnte jedoch auch er nicht lösen. Lecornu spielte in der Hochphase der Gelbwestenbewegung 2018/19 eine wichtige Rolle. Macron hatte ihn damals mit der Organisation der „grand débats“ (Bürgerdialogen) betraut, um die aufgeheizte Stimmung im Land zu kanalisieren und den Protest zumindest teilweise zu entschärfen. Damit festigte sich sein Ruf als pragmatischer Verhandler und als jemand, der nicht nur auf Härte setzt, sondern auf den Ausgleich. In Paris wie auch in den Regionen gilt er seitdem als Politiker, der zuhören kann und versucht, Brücken zu bauen – ein Profil, das in der heutigen Situation, mit einer fragmentierten Nationalversammlung und wachsendem sozialen Druck, besonders wertvoll erscheint.

Lecornus Aufgabe ist es nun, zunächst Gespräche mit allen Fraktionen über den Haushalt 2026 zu führen, bevor die eigentliche Regierungsmannschaft zusammengestellt wird. Damit bricht der Präsident mit dem bisherigen Vorgehen Barniers und Bayrous, die ihre Minister zuerst benannt und erst danach den Dialog mit der Opposition gesucht hatten. Ob diese neue „Methode“ funktioniert, bleibt abzuwarten.

Politische Lager im Zerfall

Die zerklüftete Parteienlandschaft verstärkt die politische Krise in Frankreich noch weiter. So forderte die Parti socialiste bereits vor der Vertrauensfrage, dass der Haushalt sozial verträglicher gestaltet wird, insbesondere die kleinen und mittleren Einkommen geschont und Einsparungen nur in Höhe von 22 Milliarden (also genau die Hälfte von Bayrous Sparplänen) vorgenommen werden. Grünen-Chefin Marine Tondelier sprach gar von einer Provokation, der die Ernennung Lecornus gleichkäme. Ihrer Auffassung nach hätte der Linksfront das Recht zugestanden, den neuen Premierminister zu stellen. Mit Lecornus Ernennung hebele Macron erneut die demokratische Wahl der Französinnen und Franzosen aus – das aber das linke Lager insgesamt ebenso wenig über eine Mehrheit im Parlament verfügt wie das Präsidentenlager, sparte sie dabei aus. Die linksradikale La France insoumise drohte unmittelbar mit einem sofortigen Misstrauensvotum und sieht in Lecornu nur eine Fortsetzung des „macronistischen Bonapartismus“.

Die Républicains werden aller Voraussicht nach weiter mit der Präsidentenmehrheit regieren und wollen dieses Mal sogar eine Art Koalitionsvertrag abschließen, um ihre politische Prioritäten (Senkung der öffentlichen Ausgaben, Sicherheit und Migrationskontrolle sowie die Aufwertung der Arbeit) durchsetzen zu können. Der rechtsextreme Rassemblement National könnte die Regierung zunächst tolerieren, wie dies auch anfangs bei Bayrou geschah. Marine Le Pen sprach von Lecornu jedoch als „Macrons letztem Schuss“ und fordert weiterhin Macrons sofortigen Rücktritt – in der Hoffnung, bei einer vorgezogenen Präsidentschaftswahl den Machtwechsel sicher herbeizuführen.

Lecornu steht damit vor einer doppelten Herausforderung. Kurzfristig muss er den Haushalt 2026 durch die Nationalversammlung bringen, was ohne Kompromisse mit dem linken Lager kaum gelingen kann. Langfristig aber geht es um die Frage, ob das präsidiale System selbst noch funktionsfähig ist. Scheitert auch Lecornu, könnte Frankreich in eine Verfassungskrise geraten, die nur durch Neuwahlen oder sogar eine institutionelle Neuordnung gelöst werden könnte.  So gesehen ist die aktuelle Krise nicht nur eine Episode im Machtspiel zwischen Regierung und Opposition. Sie ist ein Stresstest für die V. Republik – und möglicherweise das Vorspiel zu einem politischen Umbruch, dessen Konturen erst langsam sichtbar werden.

Jeanette Süß ist seit März 2023 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Studienkomittee für deutsch-französische Beziehungen (Cerfa) des französischen Instituts für internationale Beziehungen (Ifri). Zuvor war sie als European Affairs Managerin beim Brüsseler Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit tätig, wo sie unter anderem die Frankreich-Projekte der Stiftung betreute.