Georgien
Visafreiheit in Gefahr: Droht Georgien das Ende des europäischen Traums?
Die Visafreiheit für Georgien steht auf der Kippe.
© picture alliance / NurPhoto | Sébastien CanaudAm 17. Juni 2025 verbreiteten sich Screenshots eines X-Beitrags des Brüsseler Journalisten Rikard Jozwiak rasch in den sozialen Netzwerken Georgiens. Darin wurde eine brisante Nachricht bekannt: Die EU-Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament haben sich auf eine Reform geeinigt, die künftig die Aussetzung der Visafreiheit für Drittstaaten erleichtern soll - vor allem bei schwerwiegenden Menschenrechtsverstößen. Am unteren Rand der Grafik, die mit der Nachricht verbreitet wurde, war auch die georgische Flagge zu sehen. Kurz darauf verbreiteten Fake-Accounts auf Facebook, Instagram und X die Behauptung, die Information könne nicht stimmen - sie sei übertrieben dargestellt oder politisch instrumentalisiert.
Ein Blick in die offiziellen Verlautbarungen lässt aber anderes vermuten. In der gemeinsamen Mitteilung von EU-Rat und Europäischem Parlament heißt es:
The Council and the EP agreed on a number of new grounds which will trigger the suspension mechanism…A deterioration in the EU’s external relations with a third country, in particular when it comes to human rights and fundamental freedoms or serious breaches of the UN Charter.
Bereits im vergangenen Jahr hatte die EU ein klares Signal an die Regierung in Tiflis gesendet: Paweł Herczyński, der EU-Botschafter in Georgien, kritisierte den politischen Kurs scharf:
We do not want to harm, to punish the people of Georgia. Our intention is to send a very strong signal to the authorities of Georgia that their trajectory is unacceptable… All options are on the table, including suspension of visa‑free travel for certain passport holders from Georgia.
Die lang ersehnte Reisefreiheit
Seit dem 28. März 2017 dürfen georgische Staatsangehörige mit biometrischem Reisepass bis zu 90 Tage visafrei im Schengen-Raum reisen. Für viele war das ein bedeutender Sieg - nach Jahren des mühsamen Wartens in langen Schlangen vor Konsulaten, begleitet von Hoffnungen und Träumen. Die Visafreiheit ist nicht nur eine finanzielle Erleichterung (laut Schengen News sparte die georgische Bevölkerung dadurch rund 4,9 Millionen Euro an Visagebühren), sondern auch ein Gewinn an Zeit, Würde und Selbstbestimmung.
Zum fünfjährigen Jubiläum 2022 veröffentlichte das georgische Außenministerium beeindruckende Zahlen: Trotz pandemiebedingter Reiseeinschränkungen wurden 1.398.803 Reisen von Georgien aus in Schengen-Staaten registriert. Die hohe Zahl an Reisen zeigt, wie stark diese Freiheit das Leben vieler Menschen in Georgien prägt.
Auf der einen Seite der Seidenstraße nach Europa…
Georgien war über Jahrhunderte ein wichtiger Knotenpunkt entlang der historischen Seidenstraße - als Brücke zwischen Ost und West. Heute steht das Land an einer geopolitischen Weggabelung, die sich ebenfalls als „Seidenstraße“ beschreiben lässt: diesmal als Symbol für zwei entgegengesetzte Richtungen. Der eine Weg führt nach Europa in Richtung Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte. Der andere deutet auf eine zunehmende autoritäre Abschottung. Zwischen diesen Pfaden entscheidet sich die Zukunft Georgiens.
Im November 2024 strömten Menschen landesweit auf die Straßen Georgiens zu Protesten gegen die Ankündigung der Regierung, die EU-Beitrittsgespräche bis 2028 auszusetzen. Während viele Bürgerinnen und Bürger für ihre Rechte demonstrierten, setzte die Polizei Wasserwerfer, Pfefferspray und Gummigeschosse ein. Zahlreiche Menschenrechtsverletzungen wurden dokumentiert: unverhältnismäßige Gewalt, willkürliche Festnahmen und Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit.
Als Reaktion darauf setzte der Rat der Europäischen Union am 27. Januar 2025 Teile des Visaerleichterungsabkommens mit Georgien vorübergehend aus - vor allem für Inhaber von Diplomaten-, Dienst- und Sonderpässen sowie deren Angehörige. Viele georgische Politiker verfügen laut öffentlich einsehbaren Vermögenserklärungen über weitere Staatsbürgerschaften oder langfristige Visa. Eine Visumsperre würde sie also kaum treffen. Was einst als außergewöhnliche Möglichkeit galt, ist für sie heute selbstverständlicher Ausdruck persönlicher Freiheit.
Und die zweite Seite der Seidenstraße nach Europa?
Laut einer Umfrage des International Republican Institute (IRI) aus dem April 2023 befürworten 89 % der georgischen Bevölkerung den EU-Beitritt ihres Landes. Das deutet auch auf eines hin: Die Mehrheit teilt offenbar die grundlegenden Werte der EU - darunter Menschenrechte, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit.
Eine Aussetzung der Visafreiheit hätte konkrete Folgen: Für Studierende und junge Menschen würde sie mehr Bürokratie, höhere Kosten swoie den Verlust spontaner Chancen bedeuten – etwa für kurzfristige Konferenzen oder Austauschprogramme. Das Image einer „Risikogruppe“ könnte zu Sonderprüfungen oder Ablehnungen führen. Bei Menschen mit dringendem medizinischem Behandlungsbedarf gefährden lange Wartezeiten bei Visaentscheidungen dringend notwendige Behandlungen, die in Georgien nicht ausreichend gut durchgeführt werden können. Familien würden durch bürokratische Hürden voneinander getrennt. Reisen zu Hochzeiten, Geburten oder Beerdigungen könnten unmöglich werden.
Der gelebte Traum von Europa darf nicht enden
Während sich Minister und politische Eliten auch in angespannten diplomatischen Zeiten problemlos und entspannt ihre Flugtickets buchen können, stehen gewöhnliche Bürgerinnen und Bürger auf den Straßen Georgiens und protestieren für eine bessere Zukunft. Die Visafreiheit ist für die Bevölkerung längst mehr als nur ein Reiserecht. Sie ist ein Symbol der Zugehörigkeit, ein Fenster in eine offene Welt, ein gelebter Traum von Europa. Ihr Verlust würde nicht nur Mobilität beschneiden, sondern auch pro-europäische Einstellungen schwächen. Besonders die junge Generation könnte demotiviert werden: Wenn Perspektiven wegbrechen, wächst Entfremdung trotz der breiten politischen Unterstützung für Europa in der Bevölkerung. Nun droht denen, die den zweiten Weg der Seidenstraße am dringendsten brauchen, genau dieser versperrt zu werden.
Während die einen noch darüber debattieren, welche Fluggesellschaft die bessere Business-Lounge bietet, bleibt für viele Georgierinnen und Georgier nur eine Frage offen: Quo vadis, Georgien?