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Taiwan
Vergangenheitsbewältigung in Taiwan: Wieder ein Chiang an der Macht

Chiang Wan-an

Taipeis neu gewählter Bürgermeister Chiang Wan-an

© picture alliance / ZUMAPRESS.com | Wiktor Dabkowski

Chiang Kai-sheks mutmaßlicher Urenkel wurde im November 2022 deutlich zum Bürgermeister Taipeis gewählt. Was sagt das aus über den Stand der Vergangenheitsbewältigung in Taiwan, wenn der Nachfahre des Diktators zum Bürgermeister der Hauptstadt gewählt wird?

Es ist der 26. November 2022, Samstagabend in Taipei. Die Stimmung auf und vor der Bühne ist ausgelassen. Chiang Wan-an, 43, der strahlende Wahlsieger, lässt sich von der Menge feiern. Taipei hat einen neuen Bürgermeister gewählt.

Chiang, der seit 2016 Abgeordneter im Legislativ-Yuan war, ist nicht irgendein aufsteigender Politiker der Kuomintang KMT. Sein Name ist eng verknüpft mit Taiwans jüngerer Geschichte, man könnte auch sagen er ist belastet. Denn angeblich ist der neue Bürgermeister der Enkel von Chiang Ching-kuo und somit Urenkel des ehemaligen Diktators Chiang Kai-shek. So behauptet sein Vater, Chang Hsiao-yen, von 2008 bis 2014 stellvertretender Vorsitzender der KMT, ein Sohn Chiang Ching-kuos zu sein. 2005 änderte er seinen und den Namen seiner Kinder in Chiang um. Ob seine Geschichte tatsächlich stimmt, scheint nicht endgültig bewiesen. Seine Familiengeschichte hatte der Wahlsieger zwar nicht zum Mittelpunkt seines Wahlkampfes gemacht, aber er nahm durchaus ab und an Bezug darauf.

Dieser Wahlsieg irritiert: Taiwan hat einen erfolgreichen Demokratisierungsprozess durchlaufen und gehört heute zu den freiesten Demokratien weltweit. Wie kann man da jemanden wählen, dessen angeblicher Urgroßvater und Großvater verantwortlich waren für die dunkelsten Kapitel in Taiwans jüngerer Geschichte? Da wäre zum Beispiel der „228-Zwischenfall“ von 1947, so wird die gewaltsame Niederschlagung der am 28. Februar 1947 beginnenden Aufstände gegen Misswirtschaft, Korruption und Repression offiziell bezeichnet. „März-Massaker“ wäre vielleicht der treffendere Begriff. Und da wäre die ab 1949 errichtete Militärdiktatur und ihr sogenannter „Weißer Terror“ bis 1987: Kriegsrecht, ein Überwachungsstaat, Repressionen, machtpolitisch motivierte Säuberungen, das Verschwinden von Menschen, tausende unschuldig verurteilte politische Gefangene, Hinrichtungen und gravierende Verletzungen der Freiheits- und Menschenrechte. Auch nach Aufhebung des Kriegsrechts im Juli 1987 war es für Taiwan ein steiniger Weg bis zur vollen Demokratisierung. All das gehört zum „Erbe“ der beiden Chiangs.

Der neu gewählte Bürgermeister Chiang Wan-an, der kann dafür natürlich nicht verantwortlich gemacht werden. Allerdings hat er sich mit diesem Teil der Familiengeschichte bislang auch nicht kritisch auseinandergesetzt, zumindest nicht öffentlich. Vielmehr bedient auch er sich der Formel von „Verdiensten und Fehlern“ und ist der Meinung: „Ihre Beiträge für Taiwan dürften nicht einfach weggewischt werden". 

Transitional Justice – Taiwans Aufarbeitungsprozess 

Taiwans aktuelle Präsidentin Tsai Ing-wen machte Vergangenheitsbewältigung bereits während ihres ersten Wahlkampfes 2015 zum Thema. In ihrer Amtsantrittsrede im Mai 2016 kündigte sie an, eine Wahrheits- und Versöhnungskommission zu etablieren. Eine neue Phase der Auseinandersetzung mit der autoritären Vergangenheit sowie mit dem an der indigenen Bevölkerung begangenen Unrecht sollte beginnen.

2016 wurde die gesetzliche Grundlage für das „Ill-gotten party assets settlement committee“ (CIPAS) geschaffen. Es hat die Aufgabe, unrechtmäßig erworbenes Parteivermögen zu identifizieren und zu beschlagnahmen. Es war nicht überraschend, dass die KMT von Anfang an und mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln lautstark dagegen protestierte und rechtliche Schritte unternahm – bisher erfolglos, auch wenn einige Verfahren noch laufen.

Die zusätzlich eingerichtete „Transitional Justice Commission“ nahm im Mai 2018 die Arbeit auf. Ursprünglich nur auf zwei Jahre angelegt, stand sie unter enormem Zeitdruck und wurde zwei Mal um jeweils ein Jahr verlängert. Zu ihren Hauptaufgaben gehörten u. a. die Untersuchung und Wiedergutmachung von Justiz- und Verwaltungsunrecht; die Beseitigung autoritärer Symbole, wie z. B. Statuen, Straßen- und Gebäudenamen, Abbilder Chiang Kai-sheks auf Geldmünzen, etc.; die Erhaltung von Orten, an denen Unrecht begangen wurde sowie die Gewährung des Zugangs zu politischen Akten.

Ende Mai 2022 übergab die Kommission ihren Abschlussbericht an die Regierung. Kurz danach wurde sie aufgelöst. Damit ist aber nicht alle Arbeit getan. Unter der Leitung des Premiers wurde das Department of Human Rights and Transitional Justice im Executive Yuan neu eingerichtet. Es soll nun die Fortsetzung der Aufarbeitung koordinieren. Viele Wissenschaftler und NGOs sind allerdings enttäuscht über die Ergebnisse der Kommission und dementsprechend skeptisch, wie viel das neue Department realistischerweise erreichen kann.

Eine besondere Bedeutung kommt dem National Human Rights Museum zu. Es befindet sich in einem ehemaligen Militärgefängnis und fungiert vor allem als Gedenkort, Forschungs- und Bildungsstätte. Mit seinen vielfältigen Angeboten ist es außerdem eine wichtige Schnittstelle zwischen Regierung und Gesellschaft. Aber auch etablierte zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich schon lange vor Tsai Ing-wens Präsidentschaft für Transitional Justice eingesetzt haben, waren in den letzten Jahren sehr aktiv. So gibt es eine Vielzahl von Museen und Gedenkstätten, zahlreiche Diskussionsveranstaltungen, Ausstellungen und Führungen. Immer mehr Kunstschaffende beschäftigen sich mit Transitional Justice. Außerdem wurden Schulbücher und Curricula weiter angepasst. Es gibt einen nationalen Gedenktag für die Opfer von „228“ und regelmäßige Gedenkveranstaltungen für die Opfer des „Weißen Terrors“. 

Politische Polarisierung und gesellschaftliches Ringen 

Die Auseinandersetzung mit der autoritären Vergangenheit ist für jede Gesellschaft ein komplexes Unterfangen und geschieht immer in lokalen Kontexten. Taiwan durchlief seine Transformation ohne einen Zusammenbruch des Regimes. Die Partei, die für Verbrechen, Unrecht und Traumata im Einparteienstaat verantwortlich war, die KMT, blieb nach Beginn des Demokratisierungsprozesses bestehen. Sie stellte sogar nach Aufhebung des Kriegsrechts noch mehr als zehn Jahre lang den Präsidenten und die Regierung. Erst im Jahr 2000 gewann mit Chen Shui-bian zum ersten Mal der Kandidat der liberalen Democratic Progressive Party (DPP) die Präsidentschaftswahl.

Somit konnte die KMT lange Zeit die Narrative der Transformation prägen, Bildungsinhalte bestimmen, den Umfang und das Tempo der Aufarbeitung beeinflussen und Fragen nach der Verantwortung für die Gräueltaten abschmettern. Sie hat sich ihrer Vergangenheit bis heute nicht gestellt. Vielmehr versucht sie mit politischen, rechtlichen und medialen Mitteln, den Diskurs zu polarisieren und zuzuspitzen. Die KMT wirft der DPP „grünen Terror“ und „diktatorische Mittel“ vor. Präsidentin Tsai ist es bislang nicht gelungen, diese Polarisierung zu überwinden, das Vertrauen der breiteren Gesellschaft zu gewinnen und einen gemeinsamen, gesellschaftlichen Dialog zu initiieren. Auch die DPP taktiert politisch. Als durch die Veröffentlichung von Akten erste Fälle bekannt wurden, in denen heute prominente DPP-Politiker früher als Informanten für die KMT gearbeitet hatten, hatte man den Eindruck, dass die Partei dieses Kapitel am liebsten sofort wieder schließen würde.

Es gibt bis heute keinen gesamtgesellschaftlichen Konsens, wem man die demokratische Transformation zu verdanken habe. Hinzu kommt die geschichtlich bedingte, überaus komplexe Identitätsfrage. Unterschiedliche Erfahrungen und unterschiedlich erlebte Geschichte führten bislang eher zu fragmentierten und bisweilen sehr gegensätzlichen Erinnerungen. Auffällig ist außerdem, dass zwar viel über die „Opfer“ gesprochen wird, man aber im Prinzip nichts über die „Täter“ weiß. Bis heute wurde keiner der damals Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen. Sie haben sich weder öffentlich entschuldigt, noch wurden rechtliche Schritte gegen sie unternommen. Es ist, als sei niemand verantwortlich gewesen. 

Wo steht Chiang Wan-an?

Wie steht Chiang Wan-an, der neue Bürgermeister von Taipei mit seiner familiären Verstrickung, zu Transitional Justice? Meist hält er sich bedeckt und bewusst vage. Dabei hat er sich als Abgeordneter einige Male vergleichsweise „progressiv“ in die Debatte eingebracht: Im Januar 2021 brachte er eine Änderung des “Act Governing the Recovery of Damage of Individual Rights During the Period of Martial Law” ins Spiel. Seine Vorschläge zielten darauf ab, den Kreis derjenigen zu erweitern, die berechtigt sind, die Rückgabe von Eigentum zu fordern, das während der autoritären Herrschaft unrechtmäßig erworben worden war. Das begrüßte sogar die Transitional Justice Commission. Im April 2022 äußerte Chiang Wan-an sich außerdem zur politisch wie gesellschaftlich seit vielen Jahren hitzig geführten Auseinandersetzung über die zukünftige Gestaltung der Chiang Kai-shek Memorial Hall. Er schlug vor, sie in „Taiwan Development Memorial Hall“ umzubenennen. Innerhalb der KMT kam er damit aber nicht weit. Später hielt er sich mit weiteren Vorschlägen zurück und wich Fragen eher aus. Manchmal hatte man den Eindruck, er versuche sich als „würdiger Chiang“ zu inszenieren. Während seines Wahlkampfes begleitete er den ehemaligen Präsidenten Ma Ying-jeou in einen Park, wo die beiden sich vor einer Statue Chiang Kai-sheks verneigten. Jüngst, als Chiang Wan-an bereits Bürgermeister von Taipei war, postete er zum 35. Todestag von Chiang Ching-kuo auf Facebook Fotos von sich in ehrfurchtsvollem Gedenken an ihn.

Taiwans Demokratie ist lebendig

Hat Chiang Wan-an nun wegen oder trotz seines Namens gewonnen? Dass der vermeintliche Diktatoren-Nachfahre gewinnen konnte, ohne sich öffentlich kritisch mit der dunklen Familien-Vergangenheit auseinander gesetzt zu haben, ist am Ende vielleicht eines der vielen noch unsortierten Puzzleteile der taiwanischen Vergangenheitsbewältigung. Sie ist noch mitten im Prozess.

Der unterlegene DPP-Kandidat, Chen Shih-chung, gestand seine Niederlage ein. Er dankte seinen Wählerinnen und Wählern und entschuldigte sich, nicht gut genug gewesen zu sein. Seinem Kontrahenten Chiang gratulierte er. Der neuen Regierung Taipeis sicherte er seine Unterstützung zu. Zudem rief er seine Wähler dazu auf, den Gewinner nun auch zu unterstützen. Es war ein emotionaler Moment in einer Welt, in der die Anerkennung demokratischer Wahlergebnisse nicht mehr in allen Demokratien eine Selbstverständlichkeit zu sein scheint. Die Bürgermeisterwahl zeigte mal wieder, dass Taiwans mühsam und mit vielen Opfern erkämpfte Demokratie funktioniert.

Wie es nun mittel- und langfristig weitergehen wird mit Transitional Justice in Taiwan, ist offen. Der nächste Wahlkampf, dieses Mal um die Präsidentschaft ab 2024, steht bevor. Momentan kann man sich kaum vorstellen, dass eine der Parteien das Thema Vergangenheitsbewältigung in den Mittelpunkt rücken wird.

Doch selbst wenn die zukünftige Regierung dem Thema keine politische Priorität einräumen sollte, so werden sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weiter durch die Archive graben. NGOs und Kunstschaffende werden sich weiterhin mit der Vergangenheit auseinandersetzen, und die jüngeren Generationen werden weiter Fragen stellen.

 

Christina Sadeler ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Heidelberg. 2022 war sie Fellow des Taiwan Fellowship Programms und für neun Monate als Gastwissenschaftlerin an der Soochow University in Taipei und forschte zu Transitional Justice in Taiwan. 

 

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